8 - Schrecken - Teil 2

109 26 95
                                    

Daniel hatte Getränke geholt und als er zurück auf den Balkon trat, sah er, dass Emma ihm das Handy reichte. Er stellte die Gläser ab, nahm das Telefon entgegen und während sie einen kräftigen Schluck Wasser trank, las er ihren Text.

Dann zog Daniel sie auf die Beine, setzte sich auf ihren Lieblingsplatz und zog sie auf seinen Schoß, ehe er ihr schrieb: „Du täuschst dich, wenn du denkst, ich könnte es nicht nachempfinden, wie es ist, irgendwo festzustecken. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich dabei um einen Aufzug oder ein Autowrack handelt. Ich kann nicht nachempfinden, wie es ist, dabei das Gefühl zu haben, sich nicht bemerkbar zu machen zu können und in der Stille gefangen zu sein, das stimmt. Aber glaub mir, dass es die Panik nicht abmildert, falls du hören kannst. Die Geräusche haben mir damals eine Heidenangst eingejagt: Das Geräusch, wenn die Rettungsschere zum Einsatz kommt, das Metall, das sich erst verbiegt und letzten Endes berstet. Du hörst zwar die beruhigenden Worte der Rettungsmannschaft, doch du begreifst den Sinn nicht."

Er kämpfte gegen die Erinnerungen an und tippte weiter: „Du begreifst nicht, was sie von dir wollen. Die heulenden Sirenen, die immer lauter werden, je näher sie kommen. So viele Geräusche, aber du hast nur Panik. Ich war auch allein, obwohl mindestens zehn Menschen darum kämpften, mich zu befreien. Meine Eltern – sie reagierten nicht auf meine Schreie und glaub mir, ich schrie, bis ich heiser war. Sie konnten ja nicht mehr reagieren. Es macht keinen Unterschied, ob du in einer solchen Situation hören kannst oder nicht. Die Panik bleibt die gleiche."

Er holte nochmal tief Luft und schrieb: „Aber ich gebe dir Recht: In diesem Bezug hat die Welt der Hörenden noch viel aufzuarbeiten, was Barrierefreiheit betrifft. Wir fliegen zum Mond, denken an Marsexpeditionen und schaffen es nicht, Fahrstühle so mit den Notrufzentralen zu vernetzen, dass beispielsweise eine automatische Bandansage für die Zentrale abgespielt wird. Damit ihr die Sicherheit hättet, dass ihr gehört werdet. Aber ich hab mir – ehrlicherweise – auch noch nie überlegt, welche Gefahr ein für mich alltäglicher Aufzug für euch bedeutet. Auch ich habe noch vieles zu lernen. Es tut mir so leid, dass du das erleben musstest. Ich dachte, ich müsste die Wände hochgehen, als meine Nachrichten plötzlich nicht mehr übertragen wurden und ich dir nicht mehr beistehen konnte."

„Ich schäme mich so. Ich habe gestunken wie ein Iltis, geheult wie ein kleines Kind und die Flecken, die ich hinterlassen habe – es wusste plötzlich jeder, was Sache ist...", gab sie zu.

„Jeder in deiner Situation hätte geschwitzt und geheult. Ich habe nach dem Unfall, glaub ich zwei Wochen geheult, bis ich im Heim richtig auf die Fresse bekam. Ich hatte ein blaues Auge und meine Lippe war aufgesprungen. Die Betreuer waren richtig sauer, denn Aiden sah nicht viel besser aus. Aber ein Gutes hatte es: Ich war einen kleinen Teil der Wut auf das Schicksal losgeworden. Was den Rest angeht: Mach dir keine Gedanken darüber. Als klar war, woher die Flecken kamen, war das Thema erledigt. Für alle. Ich kann diesen Teil nicht wirklich nachvollziehen und glaube dir, dass es dir peinlich war, doch das braucht es nicht. Ging es dir deswegen heute Morgen nicht gut?", erkundigte er sich.

„Mitunter. Ich merke das immer erst recht spät. Leider ist die ganze Geschichte nicht so regelmäßig, wie sie sollte, aber das wird sich bald ändern...", deutete sie an.

„Wegen des Inhalts der Apothekentüte?", fragte er und als sie sich überrascht zu ihm umdrehte, schrieb er: „Ich hab einen Blick riskiert. Tut mir leid, ich dachte, es wäre ein Medikament, weil es dir heute Morgen nicht gut ging."

„Egal. Erstens: Nach heute, kann mir nichts mehr peinlich sein und zweitens betrifft es dich ja auch irgendwie", stellte sie fest.

„Hast du Hunger? Soll ich uns was kochen?", gebärdete er jetzt wieder und sie sah ihn mit großen Augen an.

Hear the worldWhere stories live. Discover now