6 - Erklärungen - Teil 1

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Emma sah ihn einen Moment ungläubig an, ehe sich unbewusst ihre Mundwinkel nach oben zogen, sie den Kopf in den Nacken legte und schallend loslachte, bis sie keine Luft mehr bekam. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, kletterte sie auf seinen Schoß und küsste ihn. Als sie seinen irritierten Gesichtsausdruck bemerkte, kicherte sie.

„Hast du das. Wort Komplex ist geschaffen worden für dich. Wusstest du das nicht?", zog sie ihn auf, wurde aber schlagartig ernst, als er verneinte.

Sie angelte hastig nach dem Handy, das neben ihnen lag und schrieb: „Sorry, ich dachte, du wolltest mich aufheitern. Ich höre ja keine Untertöne. Auf keinen Fall wollte ich dich auslachen. Auch so ein Ding, wenn man nicht hören kann, interpretiert man die Gefühlslage des anderen häufig falsch. Egal. Ja, du hast Komplexe. Große sogar. Und um ehrlich zu sein, verstehe ich nicht, warum. Aber ich habe es akzeptiert. Ich verstehe, dass es schwer sein muss, so extrem aufs Geld achten zu müssen wie du anscheinend, das hat mich jedoch nie gestört. Ich mag Menschen nicht wegen ihrer finanziellen Mittel, sondern aufgrund ihres Wesens. Auch dein Viertel ist für dich ein Riesenthema. Dabei ist es doch egal, woher du kommst, solange du ein Dach über dem Kopf, was Sauberes zum Anziehen und Lebensmittel hast. Dein Viertel definiert dich nicht, denn du lebst dein Leben und die anderen ihres. Hasenbergl ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Ich finde es sogar sehr schön hier. Bei mir in Allach lebt die Spießer-Gemeinde und wir sind sowas wie die Attraktion in unserer Straße. Jedes Viertel hat so seinen Charakter, aber ich finde, du solltest dich nicht dafür schämen, woher du kommst. Wenn ich mir solche Gedanken machen würde, was die Leute über mich denken, wäre ich nicht mehr hier. Ok, gut, ich mache mir logischerweise schon Gedanken, in erster Linie, was meine Lieben von mir denken. Der Rest ist mir ziemlich egal. Sie stecken nicht in meinen Schuhen. Dass Menschen, wie diese Franzi, dich so verletzen können, liegt daran, dass du dich so schämst. Aber dir entgeht dabei Folgendes: Sie ist die arme Sau. Denn eine tiefe Bindung wird sie nie eingehen: Geld liebt einen nicht. Doch Menschen schon, egal wie viel sie verdienen oder woher sie kommen."

Sie reichte Daniel das Handy, damit er antworten konnte, doch ihm schwirrte der Kopf. Er musste zugeben, dass sie recht hatte. Doch er war sprachlos. Nur eins brannte ihm auf der Seele.

„Inwiefern wärst du nicht mehr hier?", bohrte er nach.

„Lenkst du ab, aber das ist ok. So wie kenne ich dich, lässt du dir meine Worte später nochmal durch den Kopf gehen und bildest dir ein Urteil darüber. Ich hätte mich verkrochen, wenn unterkriegen lassen hätte ich mich von den Vorurteilen", erklärte sie schulterzuckend und versuchte, ihr Gähnen zu verbergen.

„Waren es so viele?", fragte er und Emma nickte.

„Sind immer noch und werden noch mehr", antwortete sie und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie nochmal gähnte.

„Wir sollten schlafen gehen, bevor du hier draußen einschläfst", stellte er fest und musste automatisch grinsen.

„Sorry, bin ich hinüber", meinte Emma schulterzuckend.

„Schon ok. War auch ein harter Tag. Und mir schadet eine Mütze Schlaf ebenfalls nicht, denn ich muss morgen arbeiten. Oder soll ich absagen?", erkundigte er sich.

„Nein, auf keinen Fall. Ich werde mir schon die Zeit vertreiben. Mach dir keinen Kopf", gebärdete sie, stand wackelig auf und er folgte ihr.

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Während sie ihre sieben Sachen zusammensuchte, ging er schon mal ins Bad und als er wieder herauskam, riskierte Emma einen kurzen Seitenblick und fragte ihn, ob er fertig war. Nachdem er bejahte, floh sie ins Bad. Plötzlich hatte sie Angst vor ihrer eigenen Courage. Wieso war sie nicht zu Melina gefahren? Sie hatte sich nach Daniel gesehnt, gab sie sich gegenüber zu. Aber sie hatte noch nie bei einem Jungen übernachtet. Was erwartete er jetzt von ihr? Sie putzte ihre Zähne und dachte währenddessen darüber nach, ob sie sich Sorgen machen musste.

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