Zweiundvierzig

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R Ü Y A



Als Rüya diesen Abend von der Arbeit nach Hause kam, brannte noch Licht im Flur. Sie hörte Geräusche aus dem Wohnzimmer. Es war bereits ziemlich spät, daher wusste sie, dass Selin bereits schlafen war und dass es Azad sein musste. Unerwartet schlug ihr Herz plötzlich höher, obwohl sie mit nichts anderem gerechnet hatte. Schließlich hatte sie ihn ja gefragt, ob er diesen Tag auf ihre Schwester aufpassen konnte. Sie ließ ihre Schlüssel und ihre Tasche auf die Kommode stellen, die in der Nähe der Tür stand. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie sich selbst Mut zu machen. Ihre plötzlich schwitzigen Hände wischte sie sich an der dreckigen Jeans ab. Unauffällig roch sie gleich auch an ihrer Bluse und verzog dann den Mund. Natürlich musste sie nach Schweiß, Fett und Essen riechen. Sie kam gerade erst von der Arbeit und hatte eine anstrengende Schicht hinter sich. Vielleicht sollte sie sich erst zurecht machen, bevor sie ihrem Mann zum ersten Mal seit einer Woche gegenüber trat? Doch schon im nächsten Moment wurde ihr die Entscheidung abgenommen, als besagter Mann im Flur erschien. »Hi«, sagte er.
»Hallo.« Sie standen beide benommen voreinander. Unfähig etwas anderes zu machen. »Danke, dass du heute auf Selin aufgepasst hast«, bedankte sich Rüya. Störrisch runzelte Azad die Augenbrauen. »Natürlich passe ich auf Selin auf«, erklärte er grimmig. Tadel schwang in seiner Stimme mit. »Sie ist ebenso auch meine Verantwortung. Auch meine kleine Schwester. Sie gehört genauso zu mir wie sie zu dir gehört.«
Erschöpft nickte Rüya bloß. »Okay.«
Sie hatte nicht mehr die Kraft etwas anderes zu tun oder ihm gar zu widersprechen. Denn er hatte recht. Es wärmte ihr Herz, dass er so dachte. Dass Selin ihm so viel bedeutete. Aber es hätte nicht so sein müssen. Nicht so sein sollen. Selin war ihre Schwester.
»Ich gehe mich dann mal frisch machen«, murmelte sie und schaute in Richtung Badezimmer.
»Anstrengende Schicht?«, fragte Azad teilnahmsvoll.
»Wohl eher anstrengende Woche.« Ihr Flüstern war leise, nicht an ihn gerichtet, doch laut genug, dass er ihre gedankenverlorenen Worte hörte. Unbehagen und eine komische andere Emotion huschten über seine Gesichtszüge. Vielleicht Schuldgefühle? Wer wusste das schon. Rüya war mittlerweile viel zu ausgelaugt, emotional mitgenommen, als dass sie sich Gedanken darüber machen wollte. »Rüya«, sagte Azad, doch sie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Ein Kloß hatte sich in ihrem Hals festgesetzt. Entsetzt stellte sie fest, wie sie gegen die Tränen ankämpfen musste. »Nicht...ich bin wirklich zu erschöpft.«
Mit geballten Fäusten presste sie ihre Zähne zusammen. Sie hätte gerne seine Arme um sich gespürt, hätte sich gerne in seine Umarmung und seinem tröstenden Geruch gehüllt. Aber noch stand zu viel zwischen ihnen und noch hatte sie keine Ahnung, wie sie ihr Leben weiterleben sollte. Also ging sie wie der Feigling, der sie war, stieg unter die Dusche und erlaubte sich erst dort einige Tränen. Sie hatte gedacht, Azad würde wieder gehen. Sie wieder alleine lassen, damit sie weiterhin Abstand zu ihm waren konnte. Ohne es zugeben zu wollen, tat ihr der Gedanke weh. Seine Abwesenheit war wie ein Loch in ihrem Herzen, das sich zu all den anderen Wunden und Narben gesellte, die sie furchtsam verborgen in sich trug. Aber sie hatte falsch gedacht. Als sie aus dem Badezimmer kam, lehnte er direkt neben der Tür. Erschrocken presste sie sich eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. »Azad...!«
Er schwieg. Warum war er noch hier? Warum ging er nicht einfach und ließ sie in Ruhe? Sie wusste, dass sie ihm versprochen hatte, zu verarbeiten, was geschehen war. Aber sie hatte auch deutlich gemacht, dass sie Zeit brauchte. Genauso wie er. Sie beide hatten sich weh getan, hatten Schmerzen, die vergehen mussten, bevor sie weiterleben konnten. Bevor sie überhaupt daran denken konnten ein weiteres gemeinsames Leben zu führen. Sie fühlte sich so verunsichert in ihrem ganzen Sein.
»Wen siehst du, wenn du mich anschaust, Rüya?«, fragte er. Mit zweifelndem Blick sah er sie an. »Wen siehst du, wenn deine Augen meine erblicken?«
Hilflos schnappte sie nach Luft. »Azad, ich...« Die Worte ließen sich nicht artikulieren, als die Schmetterlinge plötzlich abhoben. Einige komische Geräusche kamen aus ihrer Kehle. Immer wieder setzte sie neue Worte an, aber kein Satz ließ sich aus ihnen bilden. Bestrebt zu reden, doch die Sprachlosigkeit hatte sie im fest im Griff, richtete ein Chaos in ihrem Kopf an. Resigniert wendete er sich ab, die Lippen enttäuscht zusammengepresst. Er wollte gehen. Ohne nachzudenken griff sie nach seinem Handgelenk. »Azad«, entfuhr ihr ein flehendes Wimmern.
»Was, Rüya?«, herrschte er sie wütend an und entriss ihr sein Handgelenk. »Was?«
Ihr Herz machte einen Satz. Wie vor den Kopf gestoßen schaute sie ihn mit großen Augen an. Gequält rieb sich Azad den Kinn. »Herrgott nochmal, Rüya, ich warte die ganze Zeit auf dich. Ich liebe dich. Das alles hier - das alles ist verdammter Mist. Warum zögerst du? Warum kannst du mir nicht einfach verzeihen? Nach allem, was passiert ist, bleibst du an einer Sache hängen, die eine Kleinigkeit ist. Weißt du warum, Rüya?« Aufmerksam musterte er ihr Gesicht. Dabei stach sein Schmerz nur zu deutlich heraus. »Als wir uns kennengelernt haben, habe ich eine junge Frau gesehen, die Probleme damit hatte anderen zu vertrauen. Sich auf sie zu verlassen, weil sie bereits einmal alle verloren hat, die sie liebte. Sie hat Vergangenes zu ihrer Realität gemacht. Du hast mich geheiratet und jetzt zweifelst du, ob du nicht einen dummen Fehler gemacht hast. Leugne es nicht«, widersprach er als er merkte, dass die darauf etwas erwidern wollte, »ich sehe es jedes Mal in deinen Augen. Ich mache einen Fehler, du findest etwas Unangenehmes über mich heraus und jetzt, wo ich dich am Meisten brauche, hast du genau diese Bestätigung nach der du die ganze Zeit gesucht hast. Aber weißt du was, mach es dir nicht unnötig schwer. Und mir auch nicht. Halt mich nicht hin, wenn du nicht die Absicht hast, jemals zu mir zurückzukehren, denn Rüya...ich kann nicht mehr.« Erstickt versiegte seine Stimme. Rüya fühlte sich als hätte sie jemand in den Bauch geboxt. Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinunter. »Du hast recht«, wisperte sie mit dem Gefühl zu ersticken. Gerne hätte sie widersprochen, seine Worte verleugnet. Aber er hatte recht. Die konnte nicht von der Hand weisen, dass er richtig lag. Resigniert wendete er sich ab und kurz darauf war er aus der Tür.

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