Siebzehn

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R Ü Y A


An manchen Punkten des Lebens bleibt man plötzlich stehen. Man gönnt sich einen Moment der Ruhe in dem bunten Wirbel, das sich Leben nennt, und schaut zurück. Was man sieht, gefällt jemandem nicht immer. Man sieht die Fehler, die man damals nicht gesehen hat, ganz klar; fragt sich, wie man diese begehen konnte. Man sieht all die schrecklichen Augenblicke, die jemandem das Leben zur Hölle gemacht haben. Und manchmal kann man Blicke auf längst vergangenes Glück erhaschen. Man wünscht sich zurück. Würde am Liebsten in der Zeit springen.
Eine Sache der Unmöglichkeit.
Wenn Rüya in einem solchen Momenten in den Spiegel schaute, dann erinnerte sie sich an diese flüchtigen Momente des Glücks. An das vergangene Lachen ihrer wunderschönen Mutter, an die längst verhallten Gespräche auf der abendlichen Terrasse, während die Sonne gerade unterging. An das kindhafte, unbeschwerte Kreischen ihrer jüngeren Schwester, die von ihrem Vater gejagt wurde. Die abwesenden Rufe ihrer älteren Schwester aus dem Inneren des Hauses.
Dann verblassten die Bilder, genau wie das Leuchten in ihren veilchenblauen Augen. Sie wurden zu etwas anderem; etwas Grausamen, das die sterbenden Schreie ihrer Familie in ihr Bewusstsein rückte. Brennende Säure stieg in ihren Hals, hinter ihren Augen brannte es. Krampfhaft umfasste sie das Waschbecken fester. Der Geruch von Rauch stieg ihr in die Nase. Als sie die zusammengepressten Augen wieder öffnete, sah sie einen dichten grauen Schleier vor ihren Augen. Panisch sog sie die Luft in dem kleinen Badezimmer in sich auf, während sie hysterisch herumwirbelte. »Rüya!«
Es waren Schreie, die wie Staub in ihren Ohren widerhallten. Sie brannten auf ihrer Haut wie Säure, die sich tief in ihr Inneres fraßen. »Verdammt, Rüya!«
Heftiges Rütteln und Schlagen gegen die Tür riss Rüya aus ihrer hysterischen Schockstarre. Dichter Rauch füllte ihre Lunge. Mit einem lauten Krachen ging die Tür auf und Azad stürmte herein. Er griff nach ihrem Arm. »Verdammt, wir müssen hier raus!«, rief er mit einem Stoffstück vor dem Mund. Im ersten Moment war Rüya noch vor Schock ganz starr. Das Feuer weckte die ohnehin schon gegenwärtigen Erinnerungen, die sie immer wie Albträume umschlichen. Wie eine Puppe ließ sie zu, dass Azad sie hastig fortzog. »Ins Schlafzimmer, zur Feuertreppe!«
»Selin!« Heftig stemmte sie sich gegen Azads Griff. Mit einem Mal war alles Leben wieder in ihr zurückgekehrt und nur noch die Angst und Panik um ihre kleine Schwester zählten noch. »Sie ist schon weg, Necmiye Teyze hat sie runtergebracht.«
Rüya wurde übel. Hätte Azad sie nicht gesucht, hätte sie das Feuer wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Alles in ihr drehte sich, als Azad seine Hände auf ihre Taille gleiten ließ, um ihr aus dem Fenster zu helfen. Draußen konnte sie bereits das Läuten der Feuerwehrsirenen hören. Zittrig kletterte sie so schnell sie konnte die Leiter hinunter. Immer wieder schaute sie zu Azad hinunter, dem sie dicht folgte. So dicht, dass sie die Wärme seines Körpers spüren konnte und sich jeder Muskel anspannte. »Nicht«, warnte er leise, als sie unwillkürlich versuchte etwas weiter Platz zwischen ihnen zu schaffen. »Bleib so nah wie möglich bei mir. Mach dich klein. Und sei schnell, wir dürfen keine Angriffsfläche bieten.«
Unten hatte sich bereits eine Traube von Schaulustigen und Besorgten versammelt, die alle gebannt dem Tun der Feuerwehrmänner oder ihrem Abstieg zusahen. Ihr dämmerte sofort, was Azad dachte. Der plötzliche übelkeitserregende Knoten in ihrem Magen hielt sie jedoch davon ab, genauer darüber nachzudenken. »Wenn wir unten sind, gehst du direkt in Deckung. Halte dich von der Menschenmenge abseits. Press dich in die Schatten an den Wänden. Danach wird es schnell laufen müssen. Kopf immer gesenkt halten. Wir treffen uns weiter weg mit Necmiye Teyze und Selin.« Fast war er in dem Tosen nicht zu hören, so laut waren das Treiben um sie herum. Rüya wagte einen verstohlenen Blick auf das Gebäude, an dem sie hinunterkletterten, und schnappte erschrocken nach Atem. Blutrote, lichterloh brennende Flammen verschluckten das Haus, in dem sie die letzten Wochen Zuflucht gefunden hatte. Es war wie ein Fluch. Nie hatte sie gedacht, dass sie wieder einmal aus einem brennenden Haus steigen würde. Nicht, nachdem das erste Mal schon so teuer zu bezahlen gewesen war. »Wir sind gleich da«, warnte Azad. Dann war er unten, seine Hände wieder fest auf ihrer Taille und ehe sie sich versah rannten sie auch schon tief geduckt von den Sanitätern und Feuerwehrleuten weg, die auf ihren Abstieg gewartet hatten. »Hier hin.« Eisern dirigierte er sie durch die Gassen. »Ausziehen«, lautete sein nächster Befehl, während er schon im Gehen das Shirt abstreifte, das er getragen hatte. Froh über das Top, das sie unter ihrem Nachthemd trug, gehorchte sie widerstandslos. Straßen weiter wurde der Himmel immer noch von dichtem Rauch verdeckt. Azad war erbarmungslos. Trotz ihres keuchenden Atems hielten sie kein einziges Mal an, liefen zwischen den Straßen hin und her, als wären sie in einem Labyrinth.
»Wenn ich drei sage, rennst du so schnell wie möglich zu dem Taxi da vorne.« Angesichts der Tatsache, dass Azad so knapp und angespannt wirkte, verkniff sie sich die Bemerkung, dass sie doch bereits so schnell wie möglich rannte. Mit dröhnendem Puls lauschte sie seinem leisen Zählen. Bei »drei« schossen sie aus dem Schatten, Azad dicht hinter ihr, mit der Hand in ihrem Nacken, damit sie ihn schützend nach unten hielt. Sie ignorierte den erschrockenen Taxifahrer, blendete alles aus, was Azad ihm sagte und registrierte ganz am Rande, wie der Wagen sich schleunigst in Bewegung setzte. In ihren Ohren rauschte es, während ihr Herz verrückt hämmerte und ihr Atem sich zu stechenden, krampfhaften Zügen verwandelte. Der Schock lähmte all ihre Gedanken und bloß ein einziger Satz kreiste darin herum wie eine hängen gebliebene Platte: Sie wussten alles über sie.
»Hey«, murmelte Azad neben ihr. »Wag es ja nicht jetzt einen Anfall zu kriegen. Später darfst du ausflippen, nicht jetzt, verdammt.«
Ein hysterisches Kichern kam über ihre Lippen, das abrupt in einem Husten endete. Hatte er ihr gerade verboten einen Anfall zu bekommen? Der Taxifahrer warf einen nervösen Blick auf die zwei seltsamen Gäste auf seiner Rückbank, die ganz sicher Dreck am Stecken hatten. Kein Wunder, dachte sich Rüya. Es waren Minusgrade Draußen und ihre leichte Schlafbekleidung war rußbefleckt.
»Du kannst mir doch nicht befehlen, wann ich meine Anfälle kriegen darf und wann nicht!«, schnappte Rüya wütend.
»Oh doch, Süße, wenn der Zeitpunkt der denkbar schlechteste überhaupt ist, dann ganz sicher.« Sein selbstgefälliger, arroganter Ton machte sie nur noch wütender, während er gleichzeitig kombiniert mit dem Kosewort ganz durch sie hindurch ging. Finster starrte sie ihn an. »Seit wann bist du so ein arroganter Macho?«
»Nur weil du nicht immer alle meine Seiten zu sehen kriegst, heißt das nicht, dass sie nicht existieren.«
»Ich ignoriere dich jetzt.« Sein leises Lachen wärmte sie träge von innen und ließ sie alles um sich herum vergessen. Danach herrschte Schweigen, während die Häuser aus der Scheibe immer heruntergekommener wurden, die Gegend immer rauer, die Straßen immer angefüllter von zwielichtigen Gestalten, die sich im Dunkeln herumtrieben. Die Gegend wurde immer hässlicher, desto tiefer sie in das Herz der übelsten Gegend fuhren. Rüya schauderte und das lag nicht an der Kälte, die ihr eine Gänsehaut beschert hatte. Diese Gegend war gefährlich und diese Gegend mied man besser. Sie arbeitete nicht ohne Grund so hart, um sich ein Leben am Rande des ärmlichen Viertels leisten zu können. Diese Gegend war Gift für jeden, der sich hineinwagte - vor allem für Polizisten. Sie schielte besorgt zu Azad. Warum fuhren sie mitten ins Herz allen Übels? Wenn sie abhauen sollten, dann doch wohl irgendwohin wo es wenigstens halbwegs sicher war, oder etwa nicht? Mit der Zungenspitze befeuchtete sie ihre trockene Lippe, unterdrückte ein Zähneklappern. Das Grauen, das Azad mit einigen Worten vertrieben hatte, war jetzt wieder ganz dicht bei ihr. Sie konnte spüren, wie es sie von hinten einhüllte wie klebrig schwebender Nebel, der sich langsam einen Weg in ihre Lungen bahnte um sie dann von innen zu ersticken. Dann schloss sie mit flatternden Nerven die Augen, versuchte ruhiger zu werden, Luft zu holen. Selin würde sie jetzt brauchen. Ein Zusammenbruch war das letzte, was ihr jetzt passieren durfte, also schob sie alle Gefühle, alle Erinnerungen, alle Ängste zur Seite. Sie musste einen klaren Kopf haben.
Endlich hielt das Taxi vor einem alten Bahnhofsgebäude, deren Fenster eingeschlagen und Lichter flackerten. Azad bezahlte den nervösen Taxifahrer, der, nachdem sie ausgestiegen waren, so schnell wie möglich davonfuhr. Sie sagten nichts, redeten nicht. In der eisigen Nacht führte er sie bloß in das verlassene Gebäude. Lautlos und vorsichtig, als würde er jeden Moment mit einem Überfall rechnen. Was vielleicht sogar stimmen konnte, denn ganz ehrlich, in dieser Gegend war das sogar mehr als nur gewöhnlich. Vorsichtig sah sich Rüya um. Auf einer Bank saß ein zusammengekauerter Mann in Lumpen, zu seinen Füßen einige leere Whiskeyflaschen. Ein paar Teenager, nicht älter als elf oder dreizehn, lungerten in einer Ecke herum. Ein paar andere Passanten schienen auf den nächsten Zug zu warten. Da! Ihr Herz schlug schneller. In einer Ecke warteten Necmiye Teyze und Selin. Hastig rannte Rüya an Azad vorbei auf ihre kleine Schwester zu. »Selin!«
Fest drückte Rüya den kleinen Körper an sich, erdrückte sie fast, während das kleine Mädchen ganz ruhig blieb. »Bist du okay? Ist alles gut? Bist du verletzt?« Die Fragen sprudelten nur aus Rüya heraus. Ihre Finger tasteten sich an prüfend an ihrem Körper hinab. Selin streckte eine Hand aus und fasste ihrer älteren Schwester kurz an die Wange. »Nein, abla, mir geht's gut. Necmiye teyze hat auf mich aufgepasst.«
Sie zitterte zwar in der Kälte, aber ansonsten schien es ihr wirklich gut zu gehen. Ganz ruhig und gefasst wirkte sie. »Komm her«, meinte Rüya und breitete die Arme aus. Selin fiel in die Umarmung ein und ließ es zu, dass ihre ältere Schwester sie hochhob, obwohl sie doch schon sieben war und damit in einem Alter, in dem sie nicht mehr hochgehoben werden musste. Sie barg ihren Lockenkopf in Rüyas Halsbeuge und kuschelte sich an sie, um der Wärme, die sie ausstrahlte, näher zu kommen.
»Wir müssen los«, mischte sich Azad ungeniert in die Vereinigung der Geschwister ein. Seine Tante war ungewöhnlich ruhig. Wahrscheinlich war sie viel zu schockiert über die Ereignisse der Nacht. Was es auch war, Rüya war froh darüber, dass die nette Frau nicht sprach. Ihre Nerven lagen blank und alles was sie wollte, war nur noch ein sicherer Ort für sich und ihre Schwester. Wobei sie sich damit abfinden musste, dass sie wahrscheinlich nie sicher sein würde.
Der Geruch von Rauch blieb in ihrer Nase stecken und füllte ihre Lungen schmerzlich aus. »Mama!« Ihre panischen Rufe wurden vom Knistern des Feuers geschluckt und nicht erhört. Bitte, lieber Gott, mach dass das alles nur ein Albtraum ist. Mach das meiner Familie nichts passiert.
»Rüya! Rüya!« Eine Hand griff nach ihrem Arm. Erleichtert sack Rüya in sich zusammen. »Abla!«
»Rüya, nimm Selin-«, die ältere Schwester hustete und hielt sich ihren Ärmel vor Nase und Mund, »-springt aus dem Fenster!«
Ihr eindringlicher Ton ging ihr durch Mark und Knochen. Sie krallte sich am Ärmel ihrer älteren Schwester fest, als diese sich abwenden wollte. »Aber abla-«
»Tu was ich sage!« Sie verübelte ihrer älteren Schwester auch nicht den herrischen Ton. Nicht gerade sanft schob sie ein verängstigtes, kleines Kind zu ihr. Die Kleine weinte heftige Tränen, hustete und war ganz rot im Gesicht. Ein Stoß war nötig um Rüya aus ihrer Starre zu lösen. »Aus dem Fenster! Na los!«
»Was ist mit dir?«, fragte sie angstvoll. Ihr Herz schien gar nicht mehr aufhören zu wollen mit den schmerzhaften Schlägen. Der bittere Geschmack der Furcht und die Übelkeit erregende Panik ebenso wenig. Das Atmen fiel ihr zunehmend immer schwerer. Die jüngste der Schwestern fest im Griff hastete sie zum Fenster im ersten Stock. Die ältere war schon fast aus dem Raus hinaus. »Ich komme gleich nach, ich muss nach Mama und Papa sehen! Macht was ich sage! Und pass auf Selin auf!«
»Abla«, schluchzte sie, die Füße baumelten aus dem Fenster, die Arme waren unerbittlich fest um die weinende Vierjährige geschlossen. »Ich liebe euch! Allah soll mit euch zufrieden sein und auf euch aufpassen.«
»Ebenfalls, jetzt spring!«
Der beißende Gestank von Rauch schien immer noch ihre Lungen auszufüllen, obwohl es so weit vom brennenden Haus nicht möglich war. Still machten sich die vier Gestalten auf den Weg, verfolgt von einem Albtraum der sie heute Nacht heimgesucht hatte.
Wenn sich Träume wandeln würden, würde sich dieser zum Guten wenden?
Oder würde er bloß die Realität in den Schatten stellen?

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt