Einundzwanzig

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R Ü Y A




»Halt endlich still, Selin!« Das kleine Mädchen stieß ein Jammern aus und ließ die Schultern hängen. »Warum müssen wir denn unbedingt meine Haare flechten? Wir bleiben doch eh, hier, oder nicht, Rüya abla?«
Mahnend funkelte Rüya ihre Schwester an und kämpfte weiter damit, die nassen Locken zu entwirren. »Deine Haare werden zu einer Katastrophe, wenn wir sie nicht bändigen!«
Sie grummelte wieder etwas, das verdächtig nach einem ›sonst macht das doch auch nie jemand‹ klang. Rüyas Herz machte einen Sprung. Die nassen Locken endlich ausgekämmt, machte sie sich daran sie zu einem französischen Zopf zu flechten. Sie kannte sich aus mit den Locken, die sie beide von ihrer Mutter geerbt hatten. Nur ihre ältere Schwester hatte glatte Haare gehabt und sich ständig darüber beschwert. Rüya hatte nie nachvollziehen können, wieso, schließlich war diese wilde Mähne mehr Fluch als Segen.
»Siehst du?«, murmelte Rüya zufrieden und wickelte ein dünnes Haarband um das Ende. »So schlimm war das doch gar nicht.«
Selin zog ein Gesicht, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. Weise sagte sie kein Wort dazu. »Darf ich jetzt endlich mit Azad abi spielen gehen?«
»Canım [Mein Schatz], Azad abi ist nicht da.« Sanft gab sie ihrer kleinen Schwester einen Kuss auf die Wange, um die Enttäuschung zu vertreiben. »Wenn du möchtest, spiele ich mit dir.«
Sofort stieß sie ein freudiges »Ja« aus und sprang energisch vom Stuhl. »Du bist das Kind«, dirigierte sie, »und ich die Mutter. Und du weinst, weil ich einkaufen bin, okay?«
Belustigt fragte Rüya: »Warum bist du nicht das Kind und ich die Mutter?«
»Weil«, störrisch reckte sie das Kinn in die Luft, »das nicht geht! Ich bin die Mutter!«
Schmunzelnd gab Rüya nach und machte sich daran überzeugende Weingeräusche von sich zu geben. Doch Selin war nicht zufrieden. »Nein, abla, du darfst nicht Lächeln dabei! Öyle olmaz! [So geht das nicht!]«
»Okay, okay.« Rüya versuchte es erneut und diesmal nickte Selin zufrieden. »Bibişim! Ağlama, bak, ben buradayım, ağlama. [Mein Babylein! Weine nicht, schau, ich bin hier, weine nicht.]«
Necmiye Teyze steckte ihren Kopf herein. »Na, was spielt ihr zwei denn schönes?«
Selins Augen leuchteten auf. »Du kannst die Großmutter sein!«
»Wow, anscheinend sehe ich älter aus als ich dachte«, murmelte sie amüsiert.
»Keine Sorge«, beruhigte Rüya sie, »ich bin das Kleinkind.«
Beide mussten grinsen und trugen gute Miene zu Selins Spiel. »Sie ist so groß geworden«, murmelte Rüya irgendwann. »Mit jedem Tag der vergeht und jede Nacht, die sie nicht bei mir ist...ich würde mein Leben geben, nur um das zu ändern. Um endlich das Sorgerecht für sie zu bekommen. Sie wird nur älter und ich habe Angst, dass sie für immer in Heimen und Pflegefamilien aufwachsen wird.«
»Sie schlägt sich wacker«, beurteilte Necmiye Teyze nachdenklich. »Sie ist eine starke kleine Kämpferin.«
»Was hat sie denn schon anderes übrig? Sie musste sich praktisch von Kindesbeinen an durch das Leben kämpfen.«
Beide schauten zu Selin und beobachteten, wie sie gerade im Spiel einkaufte. Nach längerem Warten machte es den Anschein als würde Necmiye Arslan etwas sagen wollen. Den gerade geöffneten Mund klappte sie wieder zu, nur um ihn kurz darauf erneut zu öffnen. »Hast du eigentlich schon mal daran gedacht zu heiraten?«, fragte sie dann zögerlich. Für einen Moment hörte die Welt auf sich für Rüya zu drehen, nur um dann mit doppelter Geschwindigkeit an ihr vorbeizuziehen. Vor über einem Monat noch hätte sie sich jetzt ein schmallippiges Lächeln abgerungen und irgendwie versucht das Thema wieder schnellstmöglich zu beenden. Aber tatsächlich hatte sie erst am Tag zuvor genau den Beschluss gefasst. Sie würde Azad heiraten, wenn er ganz offiziell um ihre Hand anhielt. Wenn er ihr den Ring brachte, den er versprochen hatte. Plötzlich kam sie sich ganz schrecklich naiv vor. Mit ihren zwanzig Jahren und ihren Problemen wollte sie heiraten? Einen Mann, den sie nicht einmal annähernd genug kannte? Mit dem sie nicht einmal eine richtige Beziehung hatte?
Wie konnte die Zukunft aussehen, die beide haben würden?
»Du magst ihn, oder?«, fragte Necmiye Teyze in ihr Schweigen hinein. Ein Lächeln stahl sich auf Rüyas Lippen. Sie senkte den Blick auf ihre ineinander verschränkten Hände. »Schrecklich«, flüsterte sie. Als hätte sie Angst, dass die Fülle der Gefühle mit dem Aussprechen auf einmal verschwinden könnten. Zu nichts verpuffen und sie alleine zurücklassen würden.
»Männer wie Azad führen kein leichtes Leben, Rüya. Männer wie Azad erleben Brutalität und kämpfen für das Gute - und manchmal verlieren sie sich in dem Kampf dafür.« Bitterkeit hinterließ ihre Spur in Necmiyes Stimme. Weisheit und Lebenserfahrung zeichneten sich in den Falten ihres Gesichtes ab. »Wenn du deine Entscheidung triffst, wähle mit Bedacht. Er wird Geheimnisse vor dir haben, weil solche Männer nunmal für Geheimnisse geschaffen sind. Auf der Welt existiert Böses direkt neben Gutem. Manchmal so dicht, dass die Grenzen verschwimmen. Dieses Böse wird unweigerlich seine Klauen nach euch ausstrecken und versuchen euch zu vergiften. Er wird dich beschützen wollen und dabei ein hohes Risiko eingehen. Das Schlechte wird immer über euch hängen und euch verfolgen. Wenn du dich also für ihn entscheidest«, mahnte sie hart, »dann stell sicher, dass du mit all den Geheimnissen und all dem Schlechten leben kannst. Das alles ist kein Spiel. Du triffst einmal deine Entscheidung für alle Zeiten.«
Schwer sackte das Gewicht der Worte in Rüyas Magen. »Was, wenn ich mich falsch entscheide?«
Necmiye Arslan hob eine Augenbraue. Zum ersten Mal bemerkte Rüya, dass die Furchen in ihrem Gesicht das Resultat schwieriger Entscheidungen waren. Entscheidungen, deren Folgen einen breiten Wirkungsgrad gehabt haben müssen. »Dann wirst du euch beide verbrennen und vernichten.«

Unruhig klopfte Rüya mit den Fingern auf den Tisch

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Unruhig klopfte Rüya mit den Fingern auf den Tisch. Klopf-klopf-klopf. Draußen fielen Schneeflocken tanzend vom Himmel herab. Fast nicht zu erkennen in der schwarzen Dunkelheit vor dem Fenster.
»Mach dich nicht verrück, Mädchen.« Rüya zuckte murmelnd mit den Schultern. »Ich will bloß wissen, was los ist.«
»Er wird kommen, wenn er fertig ist mit dem, was er gerade tut.«
Was war es, was er tat? Sie war das warten leid. Ständig musste sie warten. Warten, dass ihr Leben wieder unter ihre Kontrolle kam. Warten, dass der Mann, der sie umbringen wollte, geschnappt wurde. Warten, dass man herausfand warum. Warum das alles?
Unter der dicken Schicht von Wut und Ungeduld bemerkte Rüya kaum, wie Azads Tante wieder den Raum verließ. Klopf-klopf-klopf.
Wenn sie diesen Mistkerl von einem Schwein unter die Augen kriegte, würde sie ihm eine verpassen. All die Angst, die sie um Selin, Azad, Necmiye Teyze und ihr eigenes Leben ausstand, würden sie sonst noch irgendwann innerlich umbringen. Niemand hatte das Recht, sich ihr Leben unter den Nagel zu reißen und sie erneut zu einer Gejagten zu machen! Einmal war bereits einmal zu viel. Ihre kleine Schwester verdiente einfach so viel mehr als in diesen ganzen Schlamassel reingezogen zu werden.
Quietschende Reifen und eine zufallende Autotür kündigten einen Besucher an. Rüyas Blick wanderten zu Azads schwarzen Geländewagen und sie hob verwundert eine Braue. Für einen Moment stand er neben der Fahrerseite, sein Handy in der Hand - dann schaute er auf und ihre Blicke begegneten sich. Gott, es war als hätte ihr jemand einen Schlag verpasst und all die Luft wich aus ihrer Lunge. Gierig sog sie den Anblick seiner zerzausten Haare mit dem schwarzen Pulli und der dunklen Jeans in sich auf. Seine Augen loderten dunkel. Besorgt kniff sie die Augen zusammen, als sie den grausamen Zug um seine Mundwinkel entdeckte. Fast verborgen in den unergründlichen und starren Gesichtszügen. Er steckte die Schlüssel zusammen mit seinem Handy in die Hosentasche ehe er und das Haus herumging und durch die Vordertür marschierte.
Rüya sagte kein Wort, doch Azad schien genau zu verstehen, dass sie ihn zum Reden aufforderte. »Hab deine Anrufe vorhin gesehen.« Er strich sich über den unrasierten Bart und nahm sich eine Wasserflasche aus der Vorratskammer. »Mann«, ächzte er, »ich habe so einen Hunger, könnte einen ganzen Berg voll Essen verdrücken.«
»Deine Tante hat Gemüselasagne gemacht.« Sie klopfte weiterhin mit den Fingern auf den Tisch, während er zu ihr schielte. »Selin schon am Schlafen?«
»Hmh.«
Er legte die Wasserflasche zur Seite, lehnte sich an den Tisch und nahm fast die gesamte Küche ein. Mit fast schon beängstigender Ernsthaftigkeit sah er Rüya ins Gesicht. Unter seinem Blick wurde ihr heiß und kalt zugleich. Ein merkwürdiger Knoten setzte sich in ihrem Magen fest. Sie erwiderte seinen forschen Blick. »Sag's einfach, Azad.«
Ruhig sagte er: »Wir haben den Mistkerl.«
Alles stoppte. Sie schloss die Augen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit konnte sie endlich wieder atmen.

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