Dreiunddreißig

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R Ü Y A & A Z A D



Säuseln. Flüstern. Wispern. Der Wind sauste um seine Ohren. Er sang das Lied der wandelnden Träume, flüsterte ihm Geschichten von Hoffnungen und Gefahren ins Ohr. Seine Finger legten sich um den Abzug des Scharfschützengewehrs. Unter der breiten Masse, auf die er vom Dach des Gebäudes hinabschaute, fixierte er sein Ziel mit tödlicher Präzision. Schweiß rann ihm in Strömen von der Schläfe hinab. Er wusste, was mit diesem Schuss alles auf dem Spiel stand.
Leben und Tod.

»Azadım [Mein Azad]!«, schrie sie aus vollem Halse. Ungehört verhallte ihr Schrei von den Wänden der Häuser wider. »Azadım!«
Ihr zweiter Schrei ging in einem lauten Schluchzen unter. In den Tränen, die ihre Augen benässten und ihre Wange hinabrollten. Sie schrie so laut sie konnte; schrie, bis ihr Hals weh tat und ihre Stimme brach. Doch es brachte nichts. Er hörte sie nicht.

Sein Herz wummerte unter seiner Brust. Stieß gegen die Barriere, die es an Ort und Stelle hielt. Doch er ließ sich nicht davon irritieren, ließ sich nicht ablenken. Viel zu genau wusste er, was die kleinste Unachtsamkeit anrichten konnte. In grimmiger Entschlossenheit presste er die Lippen aufeinander.
Ein Schuss...nur ein Schuss...

Mit aller Kraft lehnte sie sich gegen die Arme auf, die sie um ihre Mitte umklammert hielten. Laute Schluchzer entkamen ihrer Kehle, Schluchzer, die in ihrem Leid geboren wurden und sich in ein hysterisches Hicksen verwandelten. »Nein, nein, nein, lasst mich los! Hört auf, lasst mich los!«
Sie weinte bitterlich. Tränen strömten über ihr Gesicht. Ihr Herz ging unter in dem Schmerz. »Nein, Azad!«

Die Menschen dort unten bewegten sich. Bunte Farbtupfer in einer verlorenen Welt. Sie wechselten in Sekundenschnelle ihre Plätze, tauschten sie gegen andere ein. Es war wie ein Spiel. Ein Spiel mit tödlichem Ernst. Denn nur ein falscher Zug, eine falsche Entscheidung zur falschen Zeit am falschen Ort und ihr Leben konnte innerhalb von Sekunden verblühen.

Sie krallte ihre Finger in die Arme, die sie wie Stahl festhielten. Sie schaffte es nicht. »Öldürün beni ama almayın onu benden, nolursunuz almayın! [Bringt mich um, aber nimmt ihn mir nicht weg, bitte, nimmt ihn mir nicht weg!]«
Ihr Schluchzen war bitterlich und nicht zurückzuhalten. Sie konnte nichts dagegen unternehmen, so sehr sie sich auch wehrte.
Das Schicksal nahm seinen Lauf.

Tief atmete er ein und aus. Ein Atemzug nach dem anderen. Kurz schloss er seine Augen. Jegliche Gefühle sperrte er weg. Kälte drang in sein Herz, füllte es aus, bis es komplett vereist war. Für das, was er jetzt tun würde, waren Gefühle bloß ein Hindernis. Kurz flackerte Bedauern in den schwarzen Abgründen seines kalten Herzens, doch auch diese wusste er zu unterdrücken. Bedauern, als er an veilchenblaue Augen dachte, die das alles nicht verdient hatten.

Sie konnte nichts dagegen unternehmen, so sehr sie sich auch wehrte. Sie nahmen ihn ihr weg. Ihn, der als Einziger für Sie da war, als ihre ganze Welt dabei war, einzustürzen. Er hatte ihr ihre Träume verwirklicht. Sie zum Leben gebracht. Die Träume, die immer ihre Luft zum Atmen waren. Die Träume, die damals nur in ihren Vorstellungen fliegen konnten.
Jetzt nahmen sie ihn ihr Weg.

Blasse, veilchenblaue Augen, die er nie vergessen würde. Als er das erste Mal in diese Augen geblickt hatte, waren sie von dunklen Schatten verhangen gewesen. Er lächelte, als er daran dachte. Eine letzte Erinnerung, ein letzter Gedanke - ein stummer Abschied. Es war Zeit.

Sie weinte und die Tränen nahmen den Weg ihre Wange hinab. Sie schrie, kreischte und zerkratze die Arme derer, die sie festhielten. Der Griff verfestigte sich. »Hör auf!« Ein Knurren dicht an ihrem Ohr. Ihre Lunge verengte sich immer mehr, ließ keinen Atem durch. »Azad! Nein, Azad, yapma! Yapma, Azad. [Nein, Azad, mach es nicht! Mach es nicht, Azad.]«
Tausend Nadeln stachen von innen gegen ihre Luftröhre, stahlen ihr die Kraft zum Atmen. Schwarze Punkte schwirrten vor ihrem Sichtfeld, verdichteten sich. Erst da bemerkte sie, wie sie rasselnd und immer schwieriger Luft bekam. Salz schmeckte sie in ihrem Mund, als sie weinend in der Dunkelheit versank und ihre Kräfte sie schonungslos verließen.
Sie wusste, es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass sie das Licht erblickt hatte.
Doch bereute sie?
Niemals...
Ein letztes Mal sah sie alles vor Augen, ehe sie vollständig das Bewusstsein verlor.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt