Vierzig

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R Ü Y A


Ihr war so schlecht. »Geht es Ihnen gut?«, fragte ein vorbeigehender Mann. Rüya drückte die eine Hand auf ihre Stirn, die andere auf ihren Bauch, um sich zu beruhigen. Sie nickte schwach. »Ja...ja, es ist...okay, meine Schwe-« Sie brach ab als sie sich umschaute und realisierte, dass Selin nicht da war. Der Mann schaute sie kurz unschlüssig an. »Sind Sie sich sicher?«
Entsetzt bekam Rüya Panik. »Selin?«
Sie war nicht da. Aufgeschreckt stieß sie sich von der Wand ab. »Danke für Ihre Besorgnis«, zwängte sie lächelnd heraus, ehe sie sich umwandte. Panisch schaute sie erst um das Gebäude, ehe sie wieder zurückging, die Stufen hoch sprintete und die Glastür aufdrückte. Die Sonne blendete und spiegelte sich in dem Glas. Sie erhaschte einen Blick auf ihre geröteten Wangen und ihren gehetzten Blick. Oh Gott, was wenn etwas passiert war? Wieso hatte sie nicht mitbekommen, dass Selin verschwunden war? War sie so eine schlechte Schwester?
Die Tür öffnete sich ohne ihr Zutun und - sie hielt den Atem an - Selin erschien plötzlich vor ihr. »Selin!«
Unendlich erleichtert umarmte Rüya ihre kleine Schwester. Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Wo bist du nur hinverschwunden?«
»Sie war bei mir.« Rüya zuckte zusammen, als Azads tiefe Stimme erklang. Er hielt die Tür auf und stand genau hinter Selin. Nein, dachte sie wütend. Nicht Azad, sondern Anıl.
Ein heftiger Schmerz stach wieder gegen ihre Brust. Sie schnappte nach Atem, weil es ihr plötzlich umhaute. Mit beiden Händen umfasste sie Selins Gesicht, strich ihr die Locken zurück. »Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein, ja, mein Schatz?«
Selin nickte aus großen Augen. Rüya biss sich auf die Unterlippe, hielt mühsam ihre Tränen zurück. Sie schluckte. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
Selin wirkte etwas verunsichert und unschlüssig. Trotzdem nickte sie. Rüya richtete sich auf, aber konnte Azad trotzdem nicht anschauen. »Wir gehen jetzt nach Hause«, teilte sie ihrer Schwester mit.
»Rüya«, sagte ihr Ehemann mit gerunzelter Stirn. Sie presste die Lippen fest zusammen. Warum musste seine Stimme sie auch wie ein Lastwagen treffen? Warum fühlte sie sich trotz allem zu ihm hingezogen, obwohl doch alles, was sie aufgebaut hatten, eine Lüge war? Sie weigerte sich schlichtweg ihm auch nur Aufmerksamkeit zu zollen. Er machte einen Schritt auf die Geschwister zu. Aufgeschreckt zerrte Rüya an Selins Hand. »Los, verabschiede dich von Azad abi.« Sie lächelte beruhigend. Tatsächlich wäre sie fast daran erstickt, ›Azad‹ auszusprechen. Aber sie tat es trotzdem, denn Selin hatte es nicht verdient zwischen die Fronten zu geraten.
»Rüya.« Jetzt knurrte Azad verärgert. Er hatte einen fordernden Tonfall angeschlagen, den, den er immer dann einsetzte, wenn er sich ganz sicher durchsetzen wollte. Wenn er wollte, dass man ihm Gehorsam leistete. Dann seufzte er urplötzlich und kratzte sich aufgewühlt das Kinn. »Rüya, bitte.«
Bei den leise dahin geflüsterten Worten konnte sie einfach nicht anders. Sie sah ihm flüchtig in die Augen, hatte Angst davor, was sie in ihnen finden würde. Eigentlich hatte sie ihren Blick wieder direkt abwenden wollen, aber er starrte sie so intensiv und flehend an; sie brachte es nicht über sich. »Bitte nicht jetzt«, flüsterte Rüya. Gequält presste Azad die Lippen zusammen. Sie dachte zuerst, er würde sie nicht gehen lassen und darauf beharren, jetzt zu reden, aber dann nickte er schließlich. »Versprich es mir.«
Rüya schnappte lautlos nach Luft. Er wollte ein Versprechen! Sie konnte sich nicht erinnern, dass er im Laufe der ganzen Zeit, die sie ihn kannte, wirklich ein Versprechen von ihr gefordert hatte. Vertraute er ihr etwa nicht genug, wenn sie sagte, sie würden später reden? Es verärgerte und verletzte sie zugleich. Oder war es bloß seine Angst, sie würde einfach gehen, ohne ihm die Chance zu geben, sich zu erklären?
Sie schluckte, den Tränen nahe. Ihr Herz tief verletzt, ihr Vertrauen erschüttert. »Versprochen.« Das Wort zitterte ebenso wie ihre Stimme in der weiten Welt und in dem breiten Abstand zwischen beiden Liebenden.

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