Vier

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A Z A D



Azad stand neben seiner Tante, die ausgiebig mit einer Frau tratschte, die sie, - so, wie er verstanden hatte, - wohl sehr lange nicht gesehen hatte.
Seine Hände steckten in den Hosentaschen seiner Jeans, während seine Tante nicht aufhören konnte zu reden. Kühler Wind blies ihm ins Gesicht und strich ihm eine schwarze Strähne in die Stirn. Der Duft von Glühwein, den er schon seit seiner Kindheit als unangenehm empfunden hatte, wehte vom Weihnachtsmarkt zu ihnen her, der sich direkt hinter ihnen befand. Weihnachtszeit.
Winter.
Kristalline Flocken fielen vom Himmel, doch leider blieben sie nicht liegen, sondern schmolzen sofort wieder. Azad bekümmerte diesen Zustand, da er den Winter und den Schnee immer sehr geliebt hatte. Während seiner Zeit in der Türkei hatte er das am Meisten geliebt - der viele und starke Schneefall, den es in Istanbul so oft gab. Doch dieses Leben war schon lange vorbei. Nur ein dunkler Schatten war davon zurückgeblieben.
Manchmal holten ihn die Erinnerungen daran ein und er konnte nichts anderes tun, als sie zu ertragen. Sowohl die guten als auch die schlechten. Wenn er könnte, würde er sie auslöschen. Wenn er könnte, würde er so vieles. Doch er konnte nicht und er wusste, sich zu erinnern, war gefährlich.
Er war gefangen in einem Leben, das er nicht führen wollte; das nicht mehr existierte.

»Aber abla, bitte!«, schallte eine süße Kinderstimme zu ihm her und riss ihn aus seinen Gedanken. Seine Tante verabschiedete sich gerade von der Bekannten mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen. »Und richte deinen Kindern liebe Grüße aus«, bat seine Tante. Die Frau nickte. »Werde ich. Bis bald«, verabschiedete sie sich, schaute dabei auch Azad mit einem Lächeln an.
»Ach, es ist so schön, wenn man alte Freunde wieder sieht!«, schwärmte meine Tante. Azad erwiderte nichts darauf. Stimmte ihr nicht zu, aber widersprach ihr auch nicht. Sie lachte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Özür dilerim, oğlum. Canını sıkmışımdır. (Tut mir leid, mein Junge. Ich habe dich bestimmt gelangweilt.)«
»Du kannst ziemlich viel reden«, meinte Azad trocken, setzte sich in Bewegung, um mit seiner Tante mitzuhalten. Er spielte mit der Zigarettenpackung in seiner Jackentasche, doch widerstand dem Drang sich eine Zigarette anzuzünden, da er wusste, wie sehr seine Tante es hasste, wenn er neben ihr rauchte. Dann fiel sein Blick auf den kleinen goldenen Engel mit rauen Locken, die vor einer Frau in seinem Alter stand.
»Aber ich will Riesenrad fahren!«, beschwerte sich die Kleine.
»Uff, Selin, du weißt, dass ich Höhenangst habe. Du kannst kein Riesenrad fahren!« Augenblicklich erkannte er die Stimme wieder. Auch die schwarzen, wilde Lockenpracht sprach für sich. Rüya, die Frau, die er vor einigen Tagen mit seiner Tante nach Hause gefahren und heute morgen auf dem Friedhof wiedergesehen hatte. Sie klang frustriert und müde. Seine Tante schien ihre Kollegin ebenfalls entdeckt zu haben. Sie lief auf beide zu, fragte: »Na, was ist denn los?«
Rüya nahm sie erst jetzt wahr. Das kleine Mädchen schaute misstrauisch zu seiner Tante. Als Azad in die Augen des kleinen Mädchens schaute, wurde er Zeuge eines Verbrechens, das an diesem Kind begangen wurde. Er sah das Grauen in diesen Augen, die sie erlebt haben musste. Dieselben Schatten und Grauen, die auch in den Augen ihrer älteren Schwester zu sehen war. Er sah Gewalttätigkeit und zu viel Wissen für ein Kind in diesem Alter. Etwas Gefährliches in ihm regte sich. Plötzlich war er erfüllt voll rasender Wut, die dem nachgehen wollte; wissen wollte, wer diesen beiden Mädchen das Glück und die Freude geraubt hatte. Er spürte den tief in ihm verwurzelten Drang aufzuklären, was wohl passiert war. Fest ballte er die Hände in seinen Taschen zu Fäusten, um den Drang zu unterdrücken, der eine brennende Spur in seinem Innern verließ. Nicht länger in der Lage, dem kleinen Mädchen in die Augen zu schauen, wendete er den Blick ab.

Rüya legte ihrer Schwester die Hand auf die Schultern. Beruhigend und doch beschützerisch, das entging Azad keineswegs. Es schien die richtige Geste zu sein, denn das kleine Mädchen deutete auf das Riesenrad in der Nähe. »Da will ich drauf, aber Rüya Abla möchte nicht. Alleine darf ich nicht.«
»Oh? Da lässt sich doch was machen. Ich bin mir ganz sicher, dass Azad mit dir Riesenrad fährt. Nicht wahr, Azad?«
»Äh, was?«, fragte dieser überrumpelt. Wie kam seine Tante überhaupt auf diese Idee? Rüya schielte kurz zu ihm, ehe sie hastig beteuerte: »Nein, nein, das braucht er nicht. Selin wird sich schon damit abfinden müssen.«
Doch so leicht ließ sich Necmiye Arslan nicht abwimmeln, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Impulsiv meinte Azad: »Ist schon okay. Ich kann ruhig mit ihr Riesenrad fahren.«
Zuerst schien Rüya etwas schockiert zu sein von seiner Aussage. Seine Tante freute sich natürlich. Was auch immer sie beabsichtigte, es war deutlich zu sehen, dass es etwas mit ihm zu tun hatte. »Prima!«, rief sie aufgeregt, während die kleine Selin ihn aus großen Augen anhimmelte. Doch groß zu hoffen schien sie nicht zu wagen. Flehend sah sie zu ihrer großen Schwester auf, die schließlich seufzte und sich geschlagen hab. »Okay, okay...«, dann wendete sie sich direkt an Azad, »...du passt auf, dass ihr nichts passiert!«
Er salutierte spielerisch zu ihrem Befehl, während Selin anfing zu strahlen. Azad reichte ihr die Hand. »Dann wollen wir mal, kleine Frau. Sie befinden sich in der Ehre eine Fahrt mit mir zu unternehmen.«
Er deutete eine galante Verbeugung an, was ihr ein kindliches Kichern entlockte. »Ich bin Selin«, stellte sie sich vor.
»Selin ist also die Dame des Abends. Was für ein außerordentlich hübscher Name. Genauso hübsch wie die Dame.« Er zwinkerte ihr zu, entlockte ihr weiteres Gekicher. Aus den Augenwinkel sah er, wie Rüya die Augen verdrehte, doch selber nichts gegen den Schalk machen konnte, der ihre Lippen nach oben verformte.
Die kleine Gruppe lief auf den Riesenrad zu. Selin umarmte schnell ihre Schwester, während sie sich anstellten. »Bak korkma, abla«, sagte sie, »Azad abi yanımda. O dikkat edecek bana. (Guck, hab keine Angst, Abla, Azad Abi ist bei mir. Er wird auf mich aufpassen.)«
Er musste grinsen, als er ihre Worte hörte.
»Aha, öylemi? O zaman iyi tabiki, demi? (Aha, ist das so? Dann ist das natürlich gut, nicht wahr?)«, erwiderte Rüya darauf. Ihre Stimme war sanft und neckend, doch er hörte den beunruhigten Klang hinaus, den sie zu kaschieren versuchte.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt