Achtzehn

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A Z A D


»Na klar weiß ich, was das bedeutet«, beharrte Azad und setzte erneut mit einer Beteuerung an. Allmählich machte sich die Frustration in jeder seiner Poren breit. »Hätte ich sie etwa einfach alleine zurücklassen sollen? Wohl wissend, dass sie dem Tod ins Auge schaut?« Er konnte nichts gegen den Sarkasmus tun, der sich vor allem immer dann bemerkbar machte, wenn er aufgebracht war. Selbst wenn es sein Boss war, der diesem ausgesetzt wurde. »Verdammt, sie ist meine Freundin und das kleine Mädchen ist ihre Schwester! Sie ist sieben! Sieben und hat nur ihre ältere Schwester. Der Typ hat herausgefunden, wo sie wohnt, denken Sie, da würde ihre Schwester verschont bleiben? Er hat ein verdammtes Feuer gelegt, um sie aus der Reserve zu locken und der Teufel weiß, warum er uns nicht gefolgt ist! Bei allem Respekt, ich lasse unter keinen Umständen zu, dass ein kleines Mädchen zu einer Spielfigur mit tödlichen Folgen wird, nur weil wir dadurch vermeiden in Konflikt mit dem Jugendamt zu geraten. Sie ist da schon einmal mühelos weggekommen, denken Sie etwa, in dem Heim würde sie genug geschützt werden können, wenn schon eine Siebenjährige es schafft der Aufsicht ihrer Betreuer zu entkommen?«

»Verdammt, Kaya, Sie können trotzdem nicht einfach nach Lust und Laune reagieren wie es Ihnen passt!« Sein Boss war echt stinkig. Eigentlich war er ein eher lässiger Mann mit dem man sich leicht verstand. Mannomann, er steckte echt in Schwierigkeiten! Trotzdem würde er alles genau gleich machen, wenn er die Chance bekam. »Wenn Sie so etwas abziehen wollen, dann nur mit Rücksprache. Wissen Sie, dass so etwas unter Kindesentführung fällt?«

»Wann genau hätte ich mich denn Ihrer Meinung nach mit Ihnen besprechen sollen? Als ich in einer Rauch verpesteten Wohnung aufgewacht bin und versucht habe alle Bewohner heil rauszubekommen oder als ich gerade die Feuerleiter runtergeklettert bin, wohl wissend, dass sich vermutlich ein Loch ein unseren Hinterköpfen auftun wird?«
»Ihr beißender Sarkasmus ist auch keine Lösung, Kaya. Die Lage hier ist mehr als nur brisant. Haben Sie auch nur den Hauch einer Ahnung, wie ätzend es ist sich mit diesen Leuten herumzuschlagen und zu versuchen sie aus der Schusslinie zu kriegen? Morgen. Acht Uhr. Keine Minute später.« Das ›Oder Sie können sich von ihrer Marke verabschieden‹ sprach er zwar nicht aus, aber Azad war klar, dass er ansonsten seine Kündigung einreichte. Selbst eine Nacht in der sie alle knapp mit dem Leben davon gekommen waren, hielt seinen Boss nicht davon ab ihn in aller Frühe zu sich zu bestellen. Knallharter Boss.
»Ach ja, und Kaya«, setzte sein Boss noch an, ehe er auflegte, »halten Sie ihr Herz da raus. Ich kann es nicht gebrauchen, dass Sie den Kopf verlieren.«
Der ist schon verloren, Boss. Und sein Herz noch gleich mit dazu. »Bis später, Boss.«
»Bringen Sie ihre Mädels schlafen. Und passen Sie gut auf. Adams wird Ihnen Gesellschaft leisten, während Sie mich hier besuchen. Wir sind vorsichtig, Kaya.«
»Verstanden.« Schon etwas gnädiger gestimmt legte Azad auf und stützte sich danach mit beiden Händen auf der Fensterbank ab. Erschöpft ließ er den Kopf hängen und rang einige Sekunden nach Luft. Scheiße. Das alles war die reinste Scheiße. Wie war er bloß in diesen Schlamassel hineingeraten? Er war die denkbar letzte Person auf Erden, die sich in all sowas hineinreiten sollte. Es gab verschiedene Gründe, die dagegen sprachen. Niemals hätte er gedacht, dass eine einfache Person mit schwarzen Locken für so viel Aufruhr in seinem Leben sorgen konnte. Anfangs war es bloß Hilfsbereitschaft, aber jetzt? Jetzt steckte er so tief drin, dass es kein zurück mehr gab. Und das schlimmste? Es war ohne ein Zeichen passiert. Es war keine bewusste Entscheidung gewesen, kein Meteorit, der eingeschlagen war und auch kein Schlag ins Gesicht, der ihm alles offenbart hatte. Nein, es war alles ganz schleichend und langsam passiert. Mit jedem Blick war das Interesse gestiegen, jedes flüchtige Aufblitzen in veilchenblauen Augen hatte ihn immer weiter zu sich gezogen, jedes seltene Lachen hatte das Seil strammer gezogen und am Ende? Am Ende saß er ertrinkend tief in dem ganzen Schlamassel.
»Hey.« Er fuhr zusammen. Mist, er war wirklich völlig fertig. In eine flauschige Wolldecke eingekuschelt, ließ sich Rüya auf die Couch plumpsen. Dabei hüpften ihre Locken wie immer auf und ab, nur dass sie heute nicht von einem Haarband festgehalten wurden. Er rechnete mit dem Schlimmsten. Würde sie zusammenbrechen und weinen? Würde jetzt der Kontrollverlust kommen, den er unweigerlich erwartete? Doch Rüya war stark, stärker als alle glaubten. Sie hatte tiefe Schatten unter den Augen und das alles musste ihr schwer zu schaffen machen, doch sie ließ sich nichts anmerken. Musternd glitt ihr Blick über die Holzmöbel und den orangenen Teppich, über die Couch und die spitzenbesetzten Gardinen. »Ich kann Joshua nicht mit so einem Raum in Verbindung bringen.«
Nonchalant zuckte Azad mit den Schultern. »Familienhütte.«
Sie seufzte. »Hab Selin jetzt schlafen gebracht.«
»Du solltest auch schlafen.«
»Sagt der Richtige.« Die Bemerkung konnte sie sich einfach nicht verkneifen. Sein rechter Mundwinkel verzog sich nach oben. Nicht genug, um ein Grübchen hervorzutun, aber doch genug um ihm einen verwegenen Touch zu geben. Er rieb sich über die Bartstoppel. »Wohl wahr. Wahrscheinlich werde ich aber kein Auge zu tun.«
Ihre Augen sagten ›Dito, Baby‹, ihr herrlicher Mund lächelte wissend. Necmiye Arslan durchbrach die Zweisamkeit, an die sich keiner von beiden so recht gewöhnen wollte, aber doch schon getan hatten.
»Beide noch auf?« Auch sie hatte Ringe unter den Augen. Ein geblümtes Kopftuch war um ihr Haupt gewickelt, während der türkise Morgenmantel ihre restliche Gestalt verhüllte. »Geht schlafen, Kinder. Die Nacht wird nur vergehen, wenn wir unsere Augen zumachen.«
»Selin wird wahrscheinlich wach und dann braucht sie mich.« Azad schüttelte den Kopf. »Geht schlafen, du und Teyze, ich hab noch zu tun. Ich kann aufpassen.«
Störrisch reckte Rüya ihr Kinn in die Luft. »Vergiss es, Freundchen, du bist weder ihr Vater noch ihr Bruder. Es ist nicht dein Job auf sie aufzupassen.«
»Na ja, wenn man es genau nimmt schon, da...«
Rüya zischte: »Klugscheißer«, Necmiye Teyze lachte und Azad hielt es für das Klügste jetzt besser den Mund zu halten. »Jetzt im Ernst, geht schlafen, beide, ich muss noch einiges erledigen. Wenn sie ihre Schwester braucht, dann wecke ich dich, einverstanden?«
»Tyrann«, murmelte Rüya, warf sich die Haarpracht mit einer simplen Geste nach hinten, stand aber auf und machte sich aus dem Weg. Necmiye Teyze folgte ihr nicht gleich. »Junge, die ganze Lage ist gar nicht gut für dich.«
Sie brauchte gar nicht so eindringlich zu reden, Azad wusste ja selber, dass es das nicht war. Er seufzte, strich sich wieder über die Stoppeln auf seinem Gesicht. »Wem sagst du das?«
Sie sah ihm einfach in die Augen. Las ungeniert in Ihnen und Azad war, als suche sie etwas in ihnen. Es war unangenehm, aber er verstärkte bloß das Schild, das seine Gefühle und Gedanken verbarg und zwang sich ihren Blick zu erwidern. »Dieses Mädchen hat eine Menge Probleme, Junge, aber ich bezweifle nicht, dass sie es wert ist. Aber sie ist auch ein Risiko. Nicht nur in emotionaler Hinsicht, sondern auch in realer. Dir ist es ernst mit ihr, aber überleg dir das gut. Du riskierst dein Leben und am Ende kannst du nicht einmal wissen, ob sie bleiben wird, wenn sie die Wahrheit jemals erfährt. Du bist ein guter Junge und sie ein gutes Mädchen, aber ihr beide seid Gejagte und macht euch gegenseitig mehr Feinde als Freunde. Wenn du dich dazu entschließt sie zu deinem Mädchen zu machen, dann werdet ihr beide einen weiten Weg vor euch haben. Ich bezweifle nicht, dass es das Wert sein wird, falls ihr es schafft ihn zu Ende zu gehen, aber genau da liegt das Problem: falls.«

Rüyas Prophezeiung sollte Recht behalten. Dreimal wurde Selin wach und dreimal war sie völlig verängstigt. Irgendwann gab er es auf und legte sich einfach zu ihr. »Nicht gehen«, murmelte sie schläfrig und er strich ihr beruhigend über die Stirn. »Ist meine Barbie jetzt verbrannt?«, nuschelte sie weinerlich. Kurz stockte Azad in seiner Bewegung. »Ich kaufe dir eine neue«, versprach er und küsste ihre Stirn. Schutzsuchend drehte sie sich zu ihm und kuschelte sich an ihn. Er schaute ihr dabei zu, wie sie in einen unruhigen Schlaf driftete. Mit einer Hand unter dem Kopf starrte Azad an die Decke. Früher, als er klein war, hatte er sich immer zu seinen Eltern gelegt. Seine Geschwister hatten ihn immer ausgelacht und ihn damit aufgezogen, dass er ein Baby sei. Er war noch jung gewesen und irgendwann wurde er erwachsen. Irgendwann wurden die Albträume zur Realität. In diesem Moment wünschte er sich schrecklich die Zeit zurückdrehen zu können. Noch einmal nachts an die Tür seiner Eltern klopfen zu können und sich dann in das große Bett zwischen sie zu kuscheln. Der Wunsch nach einer Zigarette wurde fast übermächtig. Azad rauchte selten, aber wenn er es tat, dann wollte er meistens etwas vergessen oder war so gestresst, dass er einfach nur noch entspannen wollte. Leider hatte er sich diese schlechte Angewohnheit, die seine Mutter garantiert gehasst hätte, vor einigen Jahren angewöhnt.
Leise wurde die Tür geöffnet und ein schwarzer Lockenkopf steckte den Kopf hinein. Er schaute sie an. »Wollte dich nicht stören«, flüsterte sie und biss sich auf die Lippe. Mann, dieses Mädchen würde ihn noch umbringen. Vor allem, wenn sie ständig unbewusst seine Aufmerksamkeit auf ihre rosa Lippen lenkte. Ihr Blick blieb prüfend auf Selin hängen. »Sie schläft jetzt.« Er raunte die Worte fast lautlos, um sie nicht aufzuwecken. Rüya wirkte etwas niedergeschlagen und Azad war sich sicher, dass sie genauso wenig geschlafen hatte wie er. Dafür waren die Schatten in ihren Augen zu dunkel, zu nah. Zu dicht an der Oberfläche.
Er hatte das Gefühl, sie warteten. Darauf, dass der Albtraum zum Traum wurde.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt