Achtunddreißig

1.4K 117 39
                                    

R Ü Y A



Mit einer Tasse Kaffee in der Hand saß Azad brütend über ein paar Papieren. Der frisch aufgebrühte Geruch des koffeinhaltigen Getränks wanderte durch die ganze Wohnung. Gähnend betrat Rüya die Küche. Ihr Mann schaute auf, lächelte bei ihrem zerzausten Anblick. Trotzdem war eine steile Falte zwischen seinen Brauen zu sehen. Er hatte bloß eine Jogginghose und ein T-Shirt an und sich anscheinend noch nicht für die Arbeit umgezogen. Sie war jetzt seit fast drei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen und das war die erste Woche, in der Azad wieder arbeiten ging. Anfangs war er sehr besorgt gewesen, sie alleine zu lassen. Er war im Allgemeinen ziemlich besorgt, seitdem sie entführt worden war. Seine Versuche, sie zu bemuttern, waren herzerwärmend, doch nach einer Weile war es fast schon nervig geworden. Wollte sie schwere Sachen hochheben, wurde er fuchsteufelswild. Kochte sie mehr als nur eine Suppe oder Eier, war er sofort versucht sie wieder ins Bett zu bekommen.
»Warum bist du so früh auf?«, fragte er mit rauer Stimme. Sie zuckte die Schultern. Tatsache war, dass sie eigentlich kaum noch richtig schlafen konnte. Nachts war es nicht besonders schlimm, wenn er sie umarmte oder sie anders ablenkte, aber manchmal lag sie da und erinnerte sich an die Sachen, die passiert sind. An das Gefühl des dunklen Raums und der schrecklichen Stille, ihrer Angst und dann noch an die Momente der Atemlosigkeit. An die alles verschlingende Dunkelheit und diese entsetzliche Angst. Azad hatte nichts gesagt, doch insgeheim wusste sie, dass es nur noch eine Frage der Zeit war. Sie hatte den Termin bei dem Psychologen absichtlich verdrängt und verschoben. Natürlich würde Azad davon wissen. Ihm entging nur selten etwas.
»Rüya?« Sie zuckte erschrocken zusammen. »Nichts«, stammelte sie verlegen. »Bin einfach aufgewacht.«
Er kniff die Augen zusammen und stand auf. Dann griff er nach ihren Händen und zog sie dicht an sich. »Rüya...«, sagte er in diesem ganz bestimmten Tonfall. Den er schon so einige Male angeschlagen hatte. Augenblicklich war Rüya auf der Hut. Er wollte reden, das wusste sie. Aber sie hatte keine Lust dieses Thema durchzukauen. »Nicht jetzt, Azad«, meinte sie gehetzt und zugleich genervt. Sie wollte ihm die Hände entreißen und auf Abstand gehen, doch er knurrte drohend und umfasste ihre Hände fester. »Wag es nicht einmal«, schnappte er. Sie biss die Zähne zusammen, kämpfte gegen das Gefühl der Panik an. Sie konnte jetzt nicht darüber reden.
»Hey«, meinte er etwas sanfter, rieb mit dem Daumen beruhigend über ihren Puls. Sie wurde wütend und entriss ihm ihre Hände. »Nein!«
Ihre Stimme peitschte laut zwischen ihnen hindurch. Etwas zerbrach in Rüya. Erschrocken über sich selbst presste sie die Hände an ihre Seite und sah Azad an. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Er war erstarrt. »Okay«, meinte er schmallippig. Rüya hätte am Liebsten geweint. Erst recht als er sich Fäuste ballend abwandte und einige tiefe Atemzüge nahm, um sich zu beruhigen. Nach einigen Sekunden sammelte er die Briefe vom Tisch. Erst jetzt sah sie, dass sie vom Gericht waren und nichts mit seiner Arbeit zu tun hatten, wie sie fälschlicherweise angenommen hatte. Rüya wurde blass. Vor einigen Tagen waren ein paar Briefe vom Gericht gekommen. Sie hatte sie nicht geöffnet. Nicht einmal einen Blick darauf geworfen. Stattdessen hatte sie sie in irgendeine Ecke verbannt. Hatte Azad sie etwa aufgemacht?
Warum nur, konnte er das alles nicht endlich auf sich ruhen lassen? Wut flammte wieder in ihr auf und sie durchbohrte ihn mit Blicken. Er ließ seine Tasse stehen, als sei ihm der Gefallen daran vergangen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Ich gehe gleich. Es kann spät werden heute. Warte nicht auf mich. Vergiss nicht, dass Selin heute länger Schule hat. Und dass du noch den neuen Termin beim Psychologen bestätigen musst.«
»Sie ist meine Schwester«, meinte Rüya sarkastisch. »Das vergesse ich schon nicht.«
Ein Muskel in Azads Wange zuckte, seine Augen verdüsterten sich. Kurz dachte sie, jetzt würde er zurückschlagen, jetzt war es genug, doch er benahm sich weiterhin besonnen. »Du bist meine Frau, Rüya, oder?«
Er wartete ihre Antwort ab. Gab keine Ruhe, bis sie widerwillig nickte.
»Sprich es aus.« Azad konnte ziemlich fordernd werden. Seine ganze Gestalt füllte den Türrahmen aus.
»Ja«, presste Rüya heraus. Ein automatisches Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf, auch wenn die Spannung noch blieb. Schließlich nickte er zufrieden. »Dann ist sie auch meine.«
Er ging in Richtung Schlafzimmer. Müde blieb sie zurück. Alleine mit all ihrer Wut, ihrer Angst und den Tränen, die plötzlich in ihrem Hals festsaßen.
Selin war jetzt schon seit einer Weile bei ihnen. Man hatte ein psychologisches Gutachten nach der Entführung aufgestellt, wobei man zu der Ansicht kam, dass es besser für sie sei, wenn sie bei Rüya bliebe. Jetzt, da Rüya ja auch nicht mehr alleine, sondern einen Ehemann hatte, war man eher gewillt über ihr junges Alter hinwegzusehen. Sie liebte es, Selin bei sich zu haben. Sie jeden Abend ins Bett zu bringen und jeden Morgen aufzuwecken. Es war eine ganz andere Erfahrung und die Bindung zwischen den beiden Schwestern wurde so nur gestärkt. Dass Azad behauptete, sie sei auch seine Schwester, brachte sie vollkommen durcheinander.
Als Azad wieder zurückkam, in einem ordentlich gebügelten Hemd, stand Rüya nach wie vor an derselben Stelle. »Rüya«, meinte er leise. Sie spürte die federleichte Berührung seiner Hand an ihrem unteren Rücken. Ein Zittern erfasste sie, das nicht nur von ihren aufgewühlten Emotionen herkam, sondern auch von seiner Nähe, von seiner Berührung. Sie ließ zu, dass er ihr die Haare nach hinten strich, ihr einen Kuss auf den Scheitel drückte und sie einfach umarmte. Oh Gott, wie sehr sie ihn liebte. Die Tränen stiegen ihr in die Augen als sie seine Hände ergriff und sie vor ihrem Bauch gemeinsam mit ihren verschränkte. »Ich will nur das Beste für dich«, murmelte er in ihr Haar. »Ich kann es nicht ausstehen, dass du leidest, ohne dass ich etwas daran ändern kann. Es tut mir leid, Rüyam
»Ich leide nicht!«, widersprach sie vehement. »Mir geht es gut, Azad, also hör auf so um mich herum zu scharwenzeln. Das kann ich nicht ausstehen.«
Sein Körper spannte sich an ihrem an. Rüya hätte sich am Liebsten selbst geschlagen. Hatte sie unbedingt den Moment zerstören müssen? Dann stützte er die Stirn an ihrer Halsbeuge ab. Azad seufzte tief, was irgendwie sehr müde wirkte. Er war erschöpft und wusste nicht mehr weiter mit ihr. »Hör auf, dich selbst anzulügen, Rüya. Früher oder später wirst du die Wahrheit akzeptieren müssen.«
»Das ist die Wahrheit! Mir geht es gut!«
Er sagte nichts mehr, aber seine Missbilligung und Resignation schwebten wie eine graue Wolke über ihr Zusammensein. Er löste sich von ihr, die Berührungen auf einmal zu viel. Mit der Hand fuhr er sich kurz durch die Haare. »Ich gehe jetzt. Wenn was ist, ruf mich an.«
Sie nickte, die Lippen zusammengepresst. Und als Azad dann weg war und Rüya die Tür zufallen hörte, war es, als ob ein ganz wichtiger Teil ihrer selbst mit ihm gegangen war. Es fühlte sich schrecklich an, als sei plötzlich die Luft aus ihr ausgelassen worden. Sie marschierte ins Schlafzimmer. Langsam setzte sie sich auf die Kante des Ehebettes, die Ärmel ihres Oberteils über ihre Hände gezogen. Benommen registrierte sie, dass Azad das Bett gemacht hatte bevor er gegangen war. Dann fiel ihr Blick auf die zusammengefalteten Briefe, die er darauf vergessen haben musste. Ein Zittern ergriff Besitz von ihr. Die blendend weiße Farbe des Papiers schien sie zu verhöhnen. Mit einem tiefen Atemzug sprang sie über ihren Schatten und ergriff die verdammten Papiere. Ihre Hände schüttelten so sehr, dass sie einige Anläufe brauchte, um richtig erkennen zu können, um was es ging.
Es war ein Brief vom Gericht, der mitteilte, dass heute Nachmittag der Gerichtsprozess stattfinden würde. Dann, innerhalb einer Sekunde, traf sie eine Entscheidung.

Der Gerichtssaal war nicht so voll, wie Rüya erwartet hatte, als sie Platz nahm

Hoppla! Dieses Bild entspricht nicht unseren inhaltlichen Richtlinien. Um mit dem Veröffentlichen fortfahren zu können, entferne es bitte oder lade ein anderes Bild hoch.

Der Gerichtssaal war nicht so voll, wie Rüya erwartet hatte, als sie Platz nahm. Sie schaute sich neugierig um, beobachtete die Personen, die leise miteinander tuschelten. Selin strich ihr weißes Kleid glatt und setzte sich dann brav neben Rüya. Sie schien ebenso neugierig und ängstlich wie ihre Schwester zu sein. Rüya musste lächeln. Sie hatte Selins blonde Locken ordentlich gekämmt und sie dann mit Spangen befestigt. Unter dem Kleid trug sie eine dicke Strumpfhose und hatte dazu eine Strickjacke an. Es war zwar mittlerweile Frühlingsanfang, doch das Wetter konnte immer noch ziemlich frisch und kühl sein. Rüya selbst hatte daher auf eine neue, hochgeschlossene Bluse zurückgegriffen und eine Skinny Jeans dazu angezogen. Wie Selin trug auch sie eine Strickjacke, die aber schon bessere Tage gesehen hatte. Die schwarzen Locken waren ordentlich in einem französischen Zopf gebändigt. So fein herausgeputzt hatte sie sich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr und es hatte ihr gut getan, sich einmal richtig zurechtzumachen.

»Wird Azad abi nicht kommen, abla?«, fragte Selin mit gerunzelter Stirn. Rüya lächelte. »Nein, canım benim, heute nicht [Mein Schatz].«
Es dauerte nicht lange, bis die Sitzung begann. Rüyas Blick wanderte immer wieder zu dem Mann, ganz vorne, der mit dem Rücken zu ihr saß. Trotzdem erkannte sie ihn als den Angeklagten. Als den ›Anzugmann‹ wie sie ihn getauft hatte. Ihr Magen bereitete ihr Schmerzen dabei. Sie hasste es, ihn dort zu sehen. Überhaupt an ihn zu denken. Sie war so sehr von ihren Gedanken eingenommen, dass sie nicht einmal genau wusste, was alles gesprochen wurde. Sie war fast drei Stunden mit dem Zug hierhergefahren und am Ende konnte sie sich nicht einmal konzentrieren.
Irgendwann wurden die Besucher aufgefordert zu gehen, da nun der Teil käme, der für die Öffentlichkeit nicht zugänglich sei. Die Zeugen wurden aufgerufen. Es mussten mittlerweile Stunden vergangen sein, dass Rüya diesen Saal betreten hatte. Verwundert schaute sie sich um. Die meisten Personen waren bereits aufgestanden, machten sich eilig daran, den kleinen Saal zu verlassen. Die Verhandlungen vorne gingen ohne Stopp weiter. Rüya war erleichtert jetzt endlich gehen zu können. Sie musste sich nicht mehr hier sitzend damit quälen, was alles passiert war und was sich dieser Mann alles zuschulden hatte kommen lassen.
»Wir möchten gerne Anıl Karaca in den Zeugenstand berufen«, sagte einer der Männer vorne, der in seinem schwarzen Anzug stand. Rüya und Selin warteten darauf, dass sich der Weg vor ihnen klärte, damit sie genauso wie die anderen Besucher leise den Saal verlassen konnten. Sie erhob sich gerade und schulterte ihre kleine Handtasche, als ein schwarzer Schopf und breite Schultern, die sie aus dem Augenwinkel sah, ihre Aufmerksamkeit erregten. Ohne etwas tun zu können, als sei es ein Sog, richtete sie ihre Augen auf den jungen Mann, der sich gerade auf den abgetrennten Platz neben den Richter gesetzt hatte. Sie blieb stehen und versuchte zu verarbeiten, welche Bilder ihre Augen da ihrem Gehirn übertrugen. Verwundert über die plötzliche Regungslosigkeit ihrer Schwester schaute Selin zu Rüya auf. »Abla? Niye gitmiyoruz? [Warum gehen wir nicht?]«
Rüya hatte keine Antwort für ihre Schwester übrig. Sie konnte nur dastehen, unnütz und verloren, während sie dabei zusah wie all ihre Träume auf dem Boden zerschellten.
»Name?«, wurde gefragt.
»Anıl Karaca«, antwortete Azad Kaya. Und als spürte auch er diesen unerklärlichen Sog sah er ihr plötzlich genau in die Augen.








30. September 2018

Dadadaaammmmm...hach, auf diese Stelle warte ich seit Beginn dieser Geschichte...wie herrlich, sie endlich veröffentlichen zu können!

Das ist das größte Geheimnis in WT überhaupt gewesen. Manchmal habe ich mich innerlich teuflisch gut gefühlt, wenn ihr ahnungslosen Schafe meine ganzen Andeutungen nicht verstanden habt.

Erzählt mir von eurem Tag heute & drei Sachen, für die ihr dankbar seid!❤️
Ich denke, Dankbarkeit ist ein Thema, das wir oft noch echt sehr ausbauen müssen.
Ich hoffe, wie immer, dass es euch gut geht. Scheut euch nicht, euch bei Fragen zu melden!

Mit all der Liebe
yazgoenluem

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt