Sechsunddreißig

1.5K 132 19
                                    

R Ü Y A


Rüya hörte das Geräusch der Tür, die sich mit einem leisen Quietschen öffnete. Noch ganz benommen von den ganzen Schmerzmitteln, die man ihr ständig verabreicht hatte, drehte sie den Kopf zu ihrem Besucher. Die ersten paar Tage, nachdem man sie eingeliefert hatte, war sie gar nicht mehr aus ihrem Schlaf erwacht. Sie hatte die Ruhe so bitter nötig gehabt. All der Stress und die Angst der letzten Tage war zu viel für sie gewesen. Später, als es ihr dann etwas besser ging, war ihr Kopf nur halbwegs klar gewesen. Alles war irgendwie an ihrem inneren Auge vorbeigezogen, sie hatte kaum realisiert, wie man sie ständig umsorgt hatte. Bei ihrem ersten Erwachen war sie so desorientiert, so voller Angst gewesen, dass sie fast ständig geschrien hatte, als sich ihr der Arzt genährt hatte. Ihre Angst um ihre Schwester hatte sie nicht mehr losgelassen. In ihrem Kopf hatte sich alles um Selin gedreht, bis man ihr versichert hatte, dass es Selin den Umständen entsprechend gut ging. Dass sie in Sicherheit war. Natürlich war da auch der Gedanke und die Angst um Azad gewesen. Sie wusste, dass er ganz am Anfang nicht da gewesen war. Verschwommen erinnerte sie sich an das Gefühl seiner warmen Hand in ihrer. An seine Präsenz, die sie irgendwann nicht mehr alleine gelassen hatte. Oft hatte er etwas gemurmelt. Sie hatte ihn nicht verstanden. Sie glaubte, er habe manchmal auch Suren aus dem Koran rezitiert. Aber sicher war sie sich eigentlich nicht.
»Hey, du bist ja wach.« Die flüsternde Stimme ging vollkommen mit ihr durch. Eine Gänsehaut erfasste sie. Azad blieb im Türrahmen stehen als er erkannte, dass ihre Wahrnehmung endlich ganz da zu sein schien. Etwas Zögerliches huschte über seine abgehärteten Geschichtszüge, er wirkte irgendwie befangen, als wüsste er nicht recht, was er tun sollte. Sie saugte seinen Anblick in sich hinein. Er hatte zerschlissene Jeans an und ein altes Shirt unter einer Strickjacke. Seine Haare waren ziemlich verstrubbelt, als sei er einfach ein paar Mal mit den Fingern hindurchgefahren. Ein ziemlich untypischer Bart verzierte sein Gesicht, als sei er einfach zu faul dazu gewesen sich zu rasieren. Auch die dunklen, tiefen Schatten unter seinen Augen waren ein Zeugnis der vergangenen Ereignisse. Ein verhaltenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, die seine tiefe Liebe zu ihr erahnen ließ.
»Abla?« Die helle Mädchenstimme lenkte Rüyas Aufmerksamkeit auf sich. Reine Freude durchflutete sie, als der Engelkopf in ihrem weißen Kleid auf sie zu tapste. Ein breites Grinsen lag auf dem Kindergesicht. »Ablam! [Meine ältere Schwester]«
»Selin, pass auf!«, rief Azad als sich die Kleine von seiner Hand losriss und losrennen wollte.
»Hey, kleine Prinzessin«, krächzte Rüya mühsam. Ihre Kehle war immer noch ziemlich wund. Rüya streckte die Hand nach ihrer Schwester aus, die sie fast verloren hätte. Azad hob sie auf und setzte sie vorsichtig an den Bettrand. »Wie geht's dir, Selin?«
Die Augen des Mädchens leuchteten, als sie ihre Schwester fest umarmte und ihr Küsse auf die Wange drückte. »Ich hatte so Angst«, gestand das Mädchen leise. »Aber ich habe immer zu Allah gebetet, wie du es mir beigebracht hast. Und dann war Azad Abi da und danach Necmiye Teyze. Also keine Sorge, abla, man hat gut auf mich aufgepasst.«
Unbändiger Stolz erfasste Rüya als sie ihrer Schwester die Haare aus dem Gesicht streichelte und ihren süßen Anblick auf ihre Seele wirken ließ. »Seni çok, çok seviyorum, Selin. (Ich habe dich sehr, sehr lieb, Selin.)«
Azad setzte sich auf einen Stuhl zu ihnen. Er sagte nichts, beobachtete aber die Szene zwischen den beiden Geschwistern eine ganze Weile lang. Rüya war ziemlich ermattet und musste irgendwann eingedöst sein, denn als sie erwachte, war Selin weg und nur noch Azad harrte mit verschränkten Armen auf dem Stuhl aus. Er hatte den Kopf zurückgelegt und die Beine weit von sich gestreckt. Rüyas Herz füllte sich mit Liebe und Glück. Er lebte. Er war bei ihr. Und sie liebte ihn. Plötzlich öffnete er die Augen und schaute sie an. Rüya errötete. Woraufhin sich ein ziemlich schamloses Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitete. Sie wurde noch röter. Ihre Hand wanderte automatisch zu ihrem Ehering, den sie die ganze Zeit über an ihrem Finger getragen hatte. Sein Blick folgte ihrer Hand. Etwas schlich sich in seine Augen, sein Grinsen wirkte plötzlich nicht mehr so unbeschwert. Rüya hielt das nicht aus. Sie wollte nichts mehr zwischen ihnen haben. Wollte nicht, dass es noch irgendwelche Monster zu bekämpfen gab. »Was ist?«, flüsterte sie und langte nach seiner Hand. Er sah ihr wieder in die Augen. In seinem Kiefer zuckte ein Muskel. Der Ausdruck seiner blauen Augen war so ernst und betrübt, dass es Rüya in Aufruhr versetzte. Sie nahm seine Hand und küsste seine Fingerknöchel. Strich mit den Lippen liebevoll über sie. Auch seinen Ring ließ sie nicht aus. Er stellte die direkte Verbindung zwischen ihnen dar. Keine Sekunde lang ließ sie ihn aus dem Blick. Eine leichte Röte machte sich unter seinem Bart bemerkbar. Entzückt musste Rüya lachen. Das hatte sie ja noch nie bei ihm erlebt! Ihr atemloses Lachen wurde schnell zu einem Husten, trotzdem war sie unendlich glücklich. Doch Azad zuckte zusammen und umklammerte ihre Hand fester. Er beugte sich über sie, presste seine weichen Lippen auf ihre Stirn und streichelte ihr mit der freien Hand einige Strähnen aus dem Gesicht. »Azad?«, hauchte sie. Er erstarrte. Warum nur hatte sie etwas gesagt und die behagliche Wortlosigkeit zwischen ihnen zerstört? Seine Lippen wanderten zu ihrem Wangenknochen. Er hauchte federleichte Küsse darauf. »Weißt du, wie schwierig es ist, dich hier zu sehen?«, flüsterte er. Er sah ihr wieder in die Augen. »Wir müssen reden, Rüyam
Es war so eigenartig anzusehen, wie sich Angst in ihm eingenistet zu haben schien. Beruhigend hob Rüya mühsam ihren Arm und strich ihm über die Nase und die Lippen. Sie war so erschöpft. »Aber nicht jetzt.« Es war eine Bitte. Jetzt wollte sie sich nur ausruhen und nichts Böses mehr in dieses Zimmer lassen. Er nickte. »Nicht jetzt, Rüyam. Es ist nur...ich lebe eine Lüge und das solltest du wissen. Also müssen wir reden.«
So viel Schmerz und Scham stand in seinem Gesicht. Er war unruhig, machte sich viele Sorgen und Gedanken über dieses Gespräch, das sie seiner Meinung nach führen mussten. Sie schaute auf seine Lippen, dann wieder in seine Augen. »Wenn du eine Lüge lebst, wirst du sie irgendwann so sehr verinnerlichen, dass sie zu deiner Wahrheit wird.«
Ein Klopfen unterbrach die beiden Eheleute. »Das muss der Arzt sein«, meinte Azad während er aufstand. »Er wollte noch kurz vorbeikommen und nach dir sehen.«
Als er die Tür öffnete, stand jedoch jemand ganz anderes davor. Rüya konnte nicht sehen, wer es war, doch Azad deutete an gleich wieder zurück zu sein und ging raus.
»Wer sind Sie?«, fragte er misstrauisch und musterte den jungen Mann vor ihm mit verschränkten Armen. Er sah sogar älter aus als er selbst und Azad war sich ganz sicher, ihn noch nie vorher gesehen zu haben. »Rüya Özdemir? Ich bin doch richtig hier, oder?« Er schien kurz verunsichert und schaute auf das Schildchen neben der Tür.
»Kaya«, korrigierte Azad missmutig. »Sie heißt jetzt Rüya Kaya.«
»Ah. Stimmt ja. Sie hat geheiratet.« Der Mann wippte mit seinen Füßen hin und her. Auch ohne dieses kleine Detail merkte Azad, dass er nervös war. »Ich bin ein alter Freund der Familie. Kann ich kurz mit ihr reden?«
»Worüber?« Azad machte keinen Hehl aus seiner Ungunst über den unerwarteten Besucher. »Meine Frau ist ziemlich erschöpft. Sie ist nicht in der Lage, Besucher zu empfangen.«
Der Mann nickte, schien aber trotzdem nicht nachzugeben. »Ich möchte gerne jetzt mit ihr reden.«
Azad versuchte noch etwas, ihn zu überreden, doch der junge Mann erwies sich als stur. Was auch immer ihm auf dem Herzen lag, es musste wichtig sein. Schließlich trat Azad wieder unwillig ins Krankenzimmer zurück und starrte in Rüyas fragendes Gesicht. Sie war so blass und sah so zerbrechlich aus. »Da ist jemand, der dich unbedingt sprechen möchte«, erklärte er seiner Frau und führe dann noch hinzu: »Er sei ein alter Freund der Familie. Soll ich ihn einlassen?«
Rüya runzelte die Stirn, rückte ihre Decke zurecht. Azad ging zu ihr hinüber und half ihr, sich angemessen herzurichten. Dann nickte sie und Azad bat den Besucher herein. »Du hast drei Minuten«, instruierte Azad ziemlich arrogant.
Rüya sog beim Anblick des Unbekannten scharf die Luft ein. Ihre Augen wurden ganz groß, als sie den jungen, schwarzhaarigen Mann mit der ebenso schwarzen Lederjacke ansah. »Erhan enişte (Schwager)?«
Er lächelte zögerlich. »Tut mir leid, dich zu stören, Rüya. Ich habe davon gehört, was passiert ist und wollte euch sehen. Dich und Selin.«
Eine unbehagliche Stille entstand. Rüya wirkte verwirrt und etwas überfordert. »Ich habe nicht erwartet, dich zu sehen.«
Der Mann lachte kurz auf. Dann deutete er auf den Stuhl. »Darf ich?«
Sie nickte.
»Ich habe auch nicht erwartet, dass ich kommen würde. Aber jetzt, wo ich hier bin, bereue ich es nicht schon früher da gewesen zu sein.«
»Es ist drei Jahre her.«
»Wie bist du damit zurechtgekommen?«, fragte Erhan geradeheraus. Ohne Zögern, ohne Reue. »Mit dem Tod deiner Familie. Du warst damals selbst noch so jung.«
Rüya wollte mit den Schultern zucken, war aber etwas zu erschöpft dafür. Ihr Körper tat immer noch weh. »Es war schwierig. Ist es immer noch. Aber jetzt schaffe ich es eher damit umzugehen. Einen Abschluss zu finden.« Sie schaute kurz zu Azad und lächelte. Ihre Stimme war total krächzig und rau. Rüyas Mann hatte einen nachdenklichen Blick aufgesetzt und lehnte an dem breiten Fenster.
Erhan wirkte wie in sich zusammengefallen. Er war nicht mehr so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Ja, er war immer noch sehr attraktiv und sympathisch, aber es war als hatte auch er seit damals aufgehört zu leben. Seine ganze Präsenz war wie ein Schatten. Rüya kannte das. Früher einmal war sie auch so gewesen. »Es tut mir leid«, flüsterte er und stützte seinen Kopf in seinen Händen. »Dass ich nicht früher da war. Dir nicht geholfen habe. Dass deine Familie gestorben ist.«
Überlagert von all den Emotionen war seine Stimme dabei zu brechen. In seinen Augen glitzerten Tränen. Rüya erwiderte: »Mir tut es auch leid. Aber so ist das Leben. Wir wissen nie, was wann passiert. Es tut mir auch leid, was damals passiert ist. Zwischen dir und Şüheda abla
Er lächelte matt, traurig und gebrochen. Sie sah einen Mann, der seiner einstigen Geliebten noch heute hinterher trauerte. »Wir haben uns damals getrennt gehabt, Rüya.«
»Ich weiß.« Sie erinnerte sich daran, wie ihre Schwester geweint hatte. Tagelang. Wochenlang. Sie hatte nie gewusst, was zwischen den beiden vorgefallen war und wusste es bis heute nicht. »Ich weiß nicht, was damals zwischen euch passiert ist. Aber sie hat dich wirklich sehr geliebt.«
So grausamer Schmerz stand in den Augen von Erhan. Seine Liebe zu ihrer Schwester war immer noch in ihnen zu sehen. »Ich liebe sie auch. Habe sie geliebt. Für mich gab es nie eine andere, nur Şüheda. Aber ich war ein Idiot, habe sie im Stich gelassen. Habe dich im Stich gelassen, obwohl sie gewollt hätte, dass ich bei dir und Selin bleibe.«
»Wirf dir das nicht vor. Es ist schon okay so. Es ist gekommen, wie es kommen sollte.« Sie lächelte ermutigend. »Lass sie los, enişte. Lass sie gehen.«
Überrascht sah Erhan zu Rüya. »Wie soll ich bloß, Rüya? Wie? Sie ist alles für mich gewesen. Mein Leben. Mein Herz.« Sein Blick wanderte in die Ferne. »So lange habe ich mich geweigert an sie zu denken. An ihr wunderschönes Lachen und ihre leuchtenden Augen. Wir waren so voller Hoffnung. So voller Leben. Unsere ganze Zukunft lag noch vor uns.«
Eine Träne rollte Rüya die Wange hinab. Aber es war eine schöne Träne, weil sie sich auch an ihre schöne Schwester erinnerte. »Ja, ihr beide wart schon ganz einzigartig. Sie hatte sich so darauf gefreut. Wir alle. Ihr wart so glücklich miteinander.«
Erhans Augen waren gerötet von ungeweinten Tränen. Er schüttelte seinen Kopf. »Wie machst du das?«, fragte er erstickt. »Wie lässt du sie gehen?«
»Wenn du in der Vergangenheit lebst, wird sie irgendwann zu deiner Realität werden. So war das bei mir. Ich konnte nicht damit leben, dass sie nicht mehr bei mir waren. Also hat mir mein Verstand vorgelogen, sie seien noch hier. Noch bei mir. Es hat so weh getan. So sehr. Es tut immer noch weh.« Weinend klopfte sich Rüya auf die Brust. »Tief hier drin. Und dieser Schmerz wird niemals vergehen. Aber ich kann nicht weiterleben, wenn ich ständig daran hängen bleibe. Wie soll ich eine richtige Zukunft haben, wenn ich mich weigere, die Vergangenheit ruhen zu lassen?« Sie sah zu Azad. »Azad hat mir dabei geholfen. Als ich ihn näher kennenlernte, wusste ich, dass ich ihn nicht mehr gehen lassen wollte. Aber wir hätten nie eine wirkliche Zukunft haben können, wenn ich mich weiter an diesen alten Schmerz festklammern würde. Also habe ich gelernt loszulassen. Ich habe eine kleine Schwester, Erhan enişte. Sie braucht mich mehr als alles andere. Azad und Selin, die sind jetzt meine Familie. Sie sind mein Traum.«
Erhan wischte sich die übergelaufenen Tränen aus dem Gesicht und grinste. »Mann, du hast dich echt verändert. So sehr. Übrigens«, setzte er dann an und schaute zu Azad herüber, der sich die ganze Zeit über unauffällig verhalten hatte, um ihnen ihren Freiraum zu geben, »herzlichen Glückwunsch. In sha Allah (So Gott will) werdet ihr glücklich. Möge Allah eure Verbindung segnen.«
»Danke schön«, meinte Azad und lächelte seinerseits den ehemaligen Verlobten von Rüyas Schwester an. Damit stand Erhan auch schon auf. »Ich sollte dich nicht zu lange aufhalten. Ich würde mich auf jeden Fall freuen noch einmal von euch zu hören. Und Selin zu sehen. Vielleicht irgendwann, wenn es dir besser geht.«
»Das würde mich auch freuen«, murmelte Rüya mit schwindender Stimme. Besorgt musterte Azad seine Frau. Sie war kurz davor wieder einzuschlafen. Erhan und er schüttelten sich noch die Hände, dann begleitete er den Mann mit der tragischen Leidensgeschichte hinaus. Er wusste, dass Erhan wahrscheinlich nie darüber hinwegkommen würde, was mit seiner ehemaligen Verlobten passiert war. Es war nicht so, als würde sich Azad mit der Tragik des Lebens nicht auskennen. Sie tauschten kurz ihre Nummern aus und dann ging Erhan. Rüya war bereits am Schlummern als er zurückkam.

03. September 2018

Ich musste eine Zeit lang eine kurze Pause nehmen...und hoffe, euch hat dieses kleine, aber emotionale Kapitel gefallen.

Danke an all die neuen Leser! Ja, ich habe euch bemerkt, auch wenn ich euch nicht persönlich anschreiben und danken konnte. Fühlt euch jederzeit frei mir zu schreiben oder mir mitzuteilen, wie ihr in Bezug zu Wandelnder Traum denkt. Ich werde versuchen immer ein offenes Ohr für meine wunderbaren Leser zu haben.

Mit all der Liebe
yazgoenluem

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt