Sechzehn

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A Z A D



Eine weinende Frau zu trösten, war nicht gerade seine Stärke. Unbehaglich in seiner Haut versuchte Azad das nötige Einfühlungsvermögen aufzubringen, um die still vor sich weinende Frau zu trösten. »Ich verstehe das nicht«, presste die Frau mühsam hervor. »Warum?«
Als würde Azad die Antwort auf diese Frage kennen, schaute die Schwester der Toten, die vor einigen Stunden gefunden wurde, ihn mit blutunterlaufenen Augen an. Mit Hoffnung. Mit Vertrauen.
Noch unbehaglicher in seiner Haut konnte er sich wohl nicht mehr fühlen. »Das wissen wir noch nicht.«
Es war nie so wirklich Azads Wunsch gewesen, in der Mordkommission zu arbeiten. Nachdem er jedoch zu seiner Tante gezogen war, hatte er aus verschiednen Gründen die Stelle angenommen. Das schwierigste an diesem Job waren nicht die Toten, sondern die Familien und Geliebten, die gebrochen und verstört zurückblieben. So wie diese Frau. Sie war auf der Straße aufgewachsen, hatte immer hart arbeiten müssen und war verantwortlich für ihre Schwester gewesen - so wie Rüya es nun für ihre war. Jetzt erfahren zu müssen, dass sie dabei gescheitert war, ihre jüngere Schwester zu beschützen, zerstörte sie bis auf den Grund. Er sah es in ihren grünen Augen, die ihn anflehten, ihr zu sagen, dass das alles bloß ein schlechter Witz sei. Dass ihre schwarzhaarige Schwester nicht von der Kugel umgebracht wurde, die fast zu Rüyas Tod geführt hatte. Diese ganze Situation war einfach nur abgefahren und vertrackt! Wer hätte gedacht, dass sich die Sache, in die er sich mit Rüya hineingerannt hatte, solche weitreichende Kreise ziehen würde?
Aufgewühlt fuhr sich Azad durch die dichten Haare. Er brauchte einen Kaffee. Es war mittlerweile fast Mitternacht und nichts hatte ihn auf dieses Szenario vorbereitet, während er noch vor einigen Stunden mit Selin Barbie gespielt und gelacht hatte.
»Hören Sie, ich weiß, dass das nicht einfach ist. Aber wenn Sie helfen könnten, wenn Sie uns einige Fragen beantworten könnten, dann würden Sie uns dabei behilflich sein, dem ›Warum‹ auf die Schliche zu kommen.«
Die Frau weinte, doch trotzdem schien sie zu versuchen sich zusammenzureißen. Mehrmals holte sie tief Atem, ehe sie mit verquollenem Gesicht nickte.
»Ihre Schwester war Kellnerin im Duncan's?«, fragte Azad vorsichtig. Die Frau nickte.
»Wissen Sie, ob es jemanden gab, der Interesse daran haben könnte, dass ihre Schwester tot ist?«
Ein Wimmern entfuhr ihr, aber sie blieb tapfer. »Nein, niemanden. Yasmina war niemand, der Feinde hatte. Sie war zwar oftmals äußerlich betrachtet kalt, aber innerlich sehr sensibel. Unsere Eltern starben früh und ansonsten gab es niemanden. Nur uns zwei. Ich weiß nichts von Problemen, davon hätte sie mir erzählt. Wir standen uns sehr nah...«
»Kennen Sie eine Adria Baskin oder eine Rüya Özdemir?«
Die hilflose Frau schüttelte ihren Kopf. »Die Namen sind mir fremd.«

Joshua legte gerade auf, als Azad mit äußerst schlechter Laune auf seinen Arbeitsplatz zugelaufen kam

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Joshua legte gerade auf, als Azad mit äußerst schlechter Laune auf seinen Arbeitsplatz zugelaufen kam. Eine braune Akte unter seinen Arm geklemmt, fuhr er sich genervt durch die Haare. »Hab mit deiner Kleinen telefoniert«, teilte ihm sein Partner wohlwollend mit. »Du sollst sie anrufen.«
Augenblicklich sank seine Laune noch um einige Grade. Mit Rüya konnte er sich nicht befassen, nicht jetzt, wo er wusste, dass irgendein kranker Bastard da draußen herumlief und sie keinerlei Hinweise darauf hatten, was er wollte oder wer er war. Sicherlich musste sie Angst haben und sich Sorgen machen und das stachelte auch Azads Besorgnis an - nur, dass diese sich ausschließlich um Rüya und ihre Sicherheit drehte. Trotzdem, weil er einfach nicht anders konnte, als sich selber davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging und er ihre Stimme einfach hören musste, würde er anrufen. Ein kurzes Nicken sagte seinem Partner alles. Dieser verschränkte scheinbar lässig die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück. Er war genauso müde, wie Azad auch. »Übrigens ziemlich süß die Kleine. Kann verstehen, warum du so auf sie abfährst.«
War das wirklich ein Knurren, das Azads Kehle entwichen war? »Provozier mich nicht, Adams, ich bin echt nicht in Stimmung.«
Joshua feixte. »Bist du jemals in Stimmung, du Arsch?«
»Heute Nacht ganz bestimmt nicht, Wichser.«
»Euer liebevoller Umgang...ach, was geht mir da nicht das Herz auf?« Der Chef trat zu ihnen. »Packt zusammen und geht nach Hause, Jungs. Hast du nicht seit Neustem eine Frau, Kaya?«
Azads Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Warum meint immer jeder, sie sei meine Frau?«
»Wahrscheinlich weil wir alle viel schlauer sind als du und erkennen, was du noch nicht siehst«, lachte Joshua. Die Bemerkung brachte ihm einen Schubser ein. Mit seinem Handy in der Hand und seiner Jacke in der anderen entfernte er sich von seinem lachenden Partner und seinem grinsenden Chef.
Es dauerte nicht lange, bis Rüya abnahm, als er sie anrief. »Azad?«
»Rüya?«, mimte er sie nach. Nur mit Mühe verkniff er sich ein Lachen als sie schnaubte. »Hör auf!«
»Hör auf!«
»Azad!« Er wurde wieder ernst, als er die leichte Verzweiflung in ihrer Stimme hörte. »Du wolltest mich sprechen?«
»Sie ist tot, oder?« Ihre Stimme zitterte. »Er hat sie umgebracht, oder? Warum?«
Dieses elendige ›Warum‹ ging ihm so langsam auf die Nerven. Die Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, warum man versuchte all die Frauen umzubringen. Außerdem half es seinen Nerven so gar nicht, dass Rüya an der ganzen Sache beteiligt war. Eine gefühlt eiserne Faust hatte sich um sein Herz geschlossen. Seufzend strich er sich übers Gesicht. »Hör zu, ich bin hier gleich fertig und komme dann nach Hause. Beruhig dich bitte, okay? Ja, sie ist tot. Kanntest du sie?«
»Nein«, wisperte Rüya schwach. »Joshua hat mich das auch schon gefragt. Ich weiß nicht, wer das war. Wahrscheinlich haben wir einfach immer zu unterschiedlichen Zeiten gearbeitet.«
»Was macht Selin?«
»Sie schläft...in deinem Bett.« Ein leicht hysterisches Kichern entwich ihrer Kehle. Amüsiert entgegnete Azad: »Damit kann ich leben. Vor allem wenn man bedenkt, dass mein Bett zurzeit die Couch ist.«
Daraufhin brach sie in lautes Gelächter aus, das schnell zu einem Schluchzer wurde. Azad verkniff sich ein Stöhnen. »Süße, hör mal, dir wird nichts passieren, okay? Und Selin auch nicht. Ich passe auf euch auf. Wer an euch ran will, muss erst an mir vorbei. Und ich habe gehört, ich bin ein klasse Polizist«, witzelte er.
»Du bist unmöglich.« Er hörte das Lächeln in ihrer Stimme. Dann fügte sie leise, fast schon angstvoll hinzu: »Aber nicht unschlagbar.«
»Vertrau mir.« Es war unfair, das zu fordern und er wusste es.
»Wie denn?«, wisperte Rüya.
Er lächelte. »Ich bring's dir bei.«
Azad schlüpfte in beide Ärmel, während er ihren leisen Atemzügen lauschte. Mit einer freien Hand tastete er seine Taschen ab, um nach seinen Autoschlüsseln zu suchen und lief dann wieder zurück, als er sie nicht finden konnte.
»Beweg deinen süßen Hintern, Prinzessin, wenn ich dich noch mitnehmen soll«, rief er zu Joshua. Dieser salutierte mit zwei Fingern dem Boss gegenüber und stand auf. »Mein Prinz ist ungeduldig, sorry, Boss. Ich sollte los bevor er sich eine neue Prinzessin sucht.«
Der Captain schüttelte in einer verzweifelten Geste seinen Kopf. Das belustigte Schmunzeln war trotzdem deutlich an seiner Mine abzulesen. Joshua und Azad waren gewiss zwei Personen, die andere gemeinsam an den Rand der äußersten Verzweiflung treiben konnten. Allerdings war aber auch die Beziehung, die beide zueinander hatten, bemerkenswert. »Ich frage mich immer wieder, was ich bloß der Welt damit zugemutet habe damit, dass ich euch beide zu Partner bestimmt habe.«
»Keine Sorge, Chef«, Joshua klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, »irgendwann ist alles vorbei.«
»Nervt er schon wieder?«, fragte Azad mit seinen Autoschlüsseln, die er gefunden hatte, und seinem Smartphone zwischen Schulter und Ohr. »Keine Sorge, Boss, ich schaffe ihn dir vom Hals! Los, Prinzessin, ich kann's mir nicht leisten auf deinen Luxus zu warten.«
Rüyas Lachen drang durch ihn hindurch. Aufmerksam lauschte er den verschiedenen Tönen, die er nur selten bei ihr hörte. »Macht es dir was aus, wenn ich dich auf laut stelle, während ich fahre?« Er wollte nicht auflegen. Er wollte nicht, dass die Verbindung zu ihr kappte, egal wie kurz sie auch sein würde. Da Rüya noch nicht aufgelegt hatte, obwohl sie schon alles gesagt und gehört hatte, was sie wissen wollte, schätzte Azad dass auch sie nicht auflegen wollte. »Nein«, antwortete sie.
Die ganze Fahrt über, den ganzen Weg vom Revier bis zu Joshua und dann zu seiner Tante redeten sie. Nicht immer brauchte dieses Reden Worte, denn auch ihr Schweigen sprach eine Sprache, die nur Azad und Rüya verstehen konnten, die aber doch so einfach war, dass jeder sie kannte. Zwischen beiden war eine Verbindung geschaffen, die außer Allah alleine keiner mehr brechen konnte. Sie war noch ganz zart, wie eine neu erblühende Blume, die sich vor den trampelnden Füßen der Welt kaum zu schützen vermag. Nur eine Unachtsamkeit - und sie war weg. Eine Grobheit - und sie war tot. Aber doch war sie so stählern, dass sie jedem Sturm trotzte. Der Sturm, der sich Leben nannte und sein Unheil stiftendes Werk anrichten würde.
Azad lief die Stufen der Veranda hoch, die vom künstlichen Licht beleuchtet wurden. »Wann bist du da?«, erkundigte sich Rüya, gefolgt von einem Gähnen. Azad musste Schmunzeln. Mit tiefer Stimme raunte er: »Mach die Tür auf.«
Er hörte ihr erstauntes ›Oh‹, dann sich nähernde Schritte. Sekunden später schwang die Haustür auf und ließ den Blick auf eine schwarzhaarige Frau zu. Augenblicklich ließ Azad seine Hand, mit dem er sein Telefon hochgehalten hatte, hinunter senken. Sie starrte ihn an, für einen Moment nur, mit wirr auf ihren Rücken fallenden Locken. Ihre Augen hatte er wahrscheinlich noch nie so klar, so frei von jeglichem Misstrauen und jeglicher Trauer gesehen. Sein lachendes Gesicht schien sie zu verspotten und doch teilte es ganz klar mit, dass es ein Geheimnis kenne, das nur zwischen ihnen existierte.

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