Einunddreißig

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R Ü Y A



Ihr Kopf tat ihr weh. Das war das erste, was sie wahrnahm. Der stechende, intensive Schmerz, der sich dort festgesetzt hatte. Dann kam die Schwere ihrer Augen und der restlichen Glieder. Alles tat ihr unglaublich weh, sie konnte kaum etwas bewegen. Die Arme zu schwer zum Anheben, die Augen zu kompliziert zu öffnen. Ihr Mund war trocken und es war kalt. Irgendwo hörte sie das Tropfen von Wasser. Ein beständiges Geräusch in dem restlichen Nichts. »Selin!«, röchelte sie mit einem Mal und war wie vom Blitz getroffen hellwach. Alle ihre Sinne auf höchster Alarmbereitschaft und ihr Herz heftig am Pochen. Es war so dunkel. Oh Allah, wo war sie bloß?
»Selin!«, kreischte Rüya so laut sie konnte. Ihr Hals tat ihr auch weh. Hastig krabbelte sie über den Boden, suchte jede Stelle ab. Ihre Hände rutschten über Staub und weitere ganz andere, lebendige Dinge; über nasse Stellen und komisch riechende Flecken. Sie war nicht da. Schluchzend und angsterfüllt schrie sie mehrmals den Namen ihrer Schwester. Nutzlos. Zitternd vor Kälte und von einem beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen, schaukelte sich Rüya in der einen Ecke hin und her. Nur schwaches Licht beleuchtete den verlassenen Raum.
»Rüya.« Aufgeschreckt zuckte Rüya zusammen und schoss automatisch in die Höhe. Ihr Blick fiel auf die im Schatten stehende Gestalt ihr gegenüber. Ihr Atem stockte. Das konnte nicht wahr sein! »Şüheda Abla?« Ein Lächeln antwortete ihr. »Rüya.«
Ungläubig fasste sich Rüya ans Herz, während einzelne Tränen aus ihren Augen quollen. »Mein Gott, bitte hilf mir!«
Ihre Schwester lächelte. »Es wird alles gut werden, Rüya. Wo ist Selin? Du solltest auf Selin aufpassen.«
»Es tut mir so leid«, flüsterte Rüya erstickt. Bitte, oh Allah, bitte, bitte beschütze Selin! Du bist der Beschützende und der Rettende. Bitte beschütze!
»Warum weinst du, Rüya?«, fragte Şüheda Özdemir. »Haben wir nicht schon Schlimmeres überstanden?«
Rüyas leerer Magen drehte sich um. Ihr wurde ganz übel, als sie an den Tod ihrer Familie erinnert wurde. Daran, wie sie eines Nachts aufgewacht war, nur um das Haus brennend vorzufinden. Wie ihre Schwester zu ihr gerannt war, um sie zu wecken und aus dem Haus gescheucht hatte. Ein Zittern ergriff Besitz von ihr. Sie schloss die Augen, um alles auszuschließen, doch es war unmöglich. Rauch vernebelte ihre Sinne. Beißender, dichter Rauch, der nicht mehr wegging. Rüya schnappte hilflos nach Luft ohne welche zu bekommen. Sie hörte, wie ihre ältere Schwester ihren Namen geschrien hatte. Rüya hatte gewusst, dass etwas nicht stimmte. Schon Tage zuvor waren die Männer ständig aufgetaucht. Sie hatten immer mit ihren Eltern geredet. Lange. Hitzige Diskussionen. Ihre Eltern waren immer ganz komisch danach gewesen. Aber an diesem Abend war es besonders schlimm gewesen. »Rüya!«, hatte ihre Schwester gerufen und sie geschüttelt. »Rüya, hör zu! Ich muss zurück zu Mama und Papa. Selin ist bei ihnen. Geh zum Fenster, ich werde kommen und Selin bringen. Dann müsst ihr verschwinden.«
»Warum? Was passiert hier?« Rüya war noch ganz benebelt gewesen. Hatte nicht begriffen, dass der Tod an die Tür klopfte. Ihre Schwester umfasste ihr Gesicht und sah ihr eindringlich in die Augen. »Hör zu, Rüya. Die Männer sind wieder da. Ich werde nachkommen, du musst jetzt verschwinden mit Selin! Versteckt euch, verschwindet von hier! Vertraut niemanden. Und Gott, pass auf Selin auf! Und egal, was passiert, wir lieben euch.«
Eisige Furcht hatte Rüyas Herz ergriffen. »Abla!« Panisch hatte sie nach ihrer Schwester gegriffen, die immer wie ein Fels in der Brandung für sie gewesen war. »Abla, was werdet ihr machen? Was wollen diese Männer?«
Şüheda Özdemir hatte einen gequälten Ausdruck in ihren Augen gehabt. Panisch. Verzweifelt. Eine Bürde - das Wissen, dass den Tod ihrer Familie bedingt hatte. Eine Last auf ihren Schultern. »Ich muss jetzt gehen, Rüyam [Meine Rüya].«
Der Rauch hatte Rüyas Lunge gereizt. Sie musste husten und ihrer Schwester ging es nicht anders. Es waren letzte Blicke, die sich die beiden Schwestern zuwarfen. In heller Aufregung und voller Angst hastete Rüya zum Fenster. Und erstarrte. Sie sah die Flammen, die an dem unteren Stockwerk leckten. Die alles verschlingen. Dann ertönten Schüsse. Unwillkürlich schrie sie auf, eine hilflose Geste. Pure, reine Angst hatte sie in ihrem Griff. Sie betete zu Gott, dass alles gut sein würde. Dann hörte sie laute Schritte, ein helles Kinderweinen. »Rüya!«, schrie ihre ältere Schwester so laut sie konnte. Und hustete. Dann war sie da, drückte ihr das kleine Kind in die Arme, das weinte. Rüya hatte Angst zu fragen. Angst, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde. Ihre Schwester drängte sie zu gehen. Sie selbst blieb zurück. »Abla, du kommst nach?«, fragte Rüya schließlich doch, während sie bereits aus dem Fenster stieg. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Was ist mit Mama und Papa?«
»Geh jetzt endlich, Rüya!«
Rüya bemerkte, dass sie weinte. Und dass sie kaum noch richtige Luft bekam. Schniefend versuchte sie gegen die Panikattacke anzukämpfen. Ihre Lungen mussten arbeiten! Der dunkle Raum war so grausam wie die Erinnerung selbst.
»Du bist nicht gekommen.« Ihre Stimme war atemlos und anklagend. Ganz rau und belegt. Dann musste sie husten. Am Rande ihres Blickfeldes tanzten schwarze Punkte.
Die ältere Schwester legte ihren Kopf schief. »Jetzt bin ich hier.«
Rüya schüttelte schniefend ihren Kopf, atmete japsend. »Nein, bist du nicht.«
Şüheda nickte. »Was bin ich dann, Rüya? Sei endlich stark. Kämpfe.«
»Du bist nur das, was ich gerne sehen würde. Du bist eine Vorstellung; nicht real.« Ihre Stimme verlor sich brechend. »Du bist ein Traum.«

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt