Elf

2.6K 184 25
                                    

R Ü Y A



Ihr Herz brannte. Es tat ihr schrecklich weh, so schrecklich weh...der Schmerz wollte nicht vergehen. Er hielt sie in Schach, er machte sie schwach. Tränen brachen aus ihren Augen, während sie an der Tür hinunterrutschte. Sie umfasste die Enden des Schals, den sie grob um ihr Haupt geworfen hatte. Der Stoff zerknitterte in ihren Händen, während sie um Atem rang und ein Schluchzen zu verhindern versuchte. »Anne«, wimmerte sie. »Gib mir Stärke und Kraft, Allah, bitte gib mir Kraft.«
Die Welt war ein einziger Trümmerhaufen. Es fühlte sich so an, als sei ihr Dasein eine einzige Wunde. Als sei nichts mehr real außer die Schmerzen, die sie tief in ihrem Herzen spürte. Der Schmerz von Verlust, zerbrochenen Hoffnungen, Angst und einem gebrochenen Herzen.
»Du bist nicht alleine, Rüyam«, ertönte plötzlich eine Stimme. Heftig zusammenzuckend starrte sie mit einem Ruck in die leuchtenden Augen der Frau, deren Anwesenheit sie schon vergessen hatte. Es war überaus freundlich von Frau Arslan gewesen, ihr zu erlauben, dass sie bei ihr bleiben durfte. Rüya wüsste nicht, was sie machen würde, wenn ihr die Unterstützung der Frau verbieten worden wäre, die sie mit abla - dem türkischen Begriff für ältere Schwester - ansprach.
Sie kam zu ihr, griff nach Rüyas Händen. »Schau mich an, meine Liebe.« Sie war älter als Rüya selber, sie war immer schon ihre Stütze gewesen. Als Rüya sie so ansah, den warmen und trostvollen Blick in ihren Augen erkannte, wäre sie am Liebsten erneut in Tränen ausgebrochen. »Abla, ich halte das alles nicht mehr aus«, schluchzte sie. »Ich schaffe das nicht.«
»Hab Vertrauen in Allah, Liebste.«
Angestrengt fragte Rüya: »Ist es das Leben überhaupt wert, gelebt zu werden? Ich habe alles verloren, abla. Ich habe nichts mehr; nichts! Es ist unerträglich. Ich kann nicht mehr; ich will das nicht mehr!«
Es dauerte einige Sekunden, bis die immer noch lächelnde Frau erwiderte: »Allah, der Erhabene, sagt in der Sure Az-Zumar, Vers 10: ›Sag: O meine Diener, die ihr gläubig seid, fürchtet euren Herrn. Für diejenigen, die Gutes tun, gibt es hier im Diesseits Gutes. Und Allahs Erde ist weit. Gewiß, den Standhaften wird ihr Lohn ohne Berechnung in vollem Maß zukommen.‹ In dem 53. Vers heißt es: ›Sag: O Meine Diener, die ihr gegen euch selbst maßlos gewesen seid, verliert nicht die Hoffnung auf Allahs Barmherzigkeit. Gewiß, Allah vergibt die Sünden alle. Er ist ja der Allvergebende und Barmherzige.‹ Des Weiteren verkündet Allah: ›Und wenn dich Meine Diener über Mich befragen, so bin Ich nahe; Ich höre den Ruf des Rufenden, wenn er Mich ruft. Deshalb sollen sie auf Mich hören und an Mich glauben. Vielleicht werden sie den rechten Weg einschlagen.‹ (2:186) ›50:16
Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was (alles ihm) seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader.‹
Dein Herr hat dich nicht verlassen, noch ist Er böse.‹ (93:4)
Und fürwahr, dein Herr wird dir geben und du wirst wohlzufrieden sein.‹ (93:6)
Er fand dich irrend in deiner Sehnsucht nach Ihm und führte dich richtig.‹ (93:8)«
Das Lächeln erlosch nicht aus dem Gesicht der Älteren. Sie wirkte fast unwirklich, als sei sie bloß ein Traum. Und doch war sie da, hatte ihre Hand tröstend auf Rüyas Knien gelegt. »Bist du deswegen hier?«, flüsterte Rüya. »Allah hat dich zu mir geschickt, um mich an ihn zu erinnern?«
Nichtssagend lächelte die junge Frau Rüya weiterhin an. »Denk darüber nach, Rüya. Du bist nicht alleine. Du hast Allah. Alles Gute und alles Schlimme im Leben kommt von Allah. Halte dich daran fest.«
Müde lehnte Rüya ihren Kopf gegen das kühle Holz in ihrem Rücken. Leider etwas zu schnell, sodass ein dumpfer Ton erzeugt wurde. »Diese Welt bricht mir mein Herz; zweifach und dreifach.«
»Diese Welt bricht jedem das Herz, doch das ist die Prüfung, durch die wir alle laufen müssen.«
Ein leises, aber doch beharrliches Klopfen an der Tür riss beide Frauen abrupt aus ihrem Gespräch. »Rüya?«
Azad. Unangemessen, aber doch richtig, bildete sich ein Lächeln auf Rüyas Lippen. Noch dichter presste sie sich an die Tür, wäre am Liebsten zu ihm gelaufen. Das selige Lächeln war ihr Untergang. Es war die Bestätigung der Gefühle, die ihre Brust vollständig in ihrer Gewalt hatten. Ihr Herz klopfte plötzlich schneller, sie riss die Augen weit auf.
»Rüya?«
Azad.
»Ist alles in Ordnung? Warum antwortest du mir nicht?« Die Luft kam zittrig in ihren Körper. Was sollte sie sagen? Sie wusste nicht wie zu reden war. Alle Wörter waren aus ihrem Kopf ausgelöscht. Wie viel ihres Gesprächs hatte er mitbekommen?
»Antworte doch«, lachte ihre Schwester. »Oder hat er dir die Sprache verschlagen? Ah, ich merke schon, er ist anders.«
»Nichts ist anders. Vor allem nicht er.«
»Leugnen bringt dir nichts, Rüya. Akzeptiere.« Bitterböse starrte Rüya ihre Schwester an. »Warum sollte er mir etwas bedeuten?«
»Weil er der einzige ist, der seit Jahren Rücksicht auf deine Befindlichkeit nimmt?« Die Wahrheit aus dem Mund ihrer Schwester zu hören, ließ sie erstarren. Die Worte waren ausgesprochen und wurden real. Sie nahmen an Form an. Nun konnte sie nicht mehr bewusst die Augen davor verschließen. Nun konnte sie sich nicht mehr blind stellen. Woher der Kloß plötzlich in ihren Hals kam, konnte Rüya auch nicht sagen. Missmutig fuhr sie sich durch die wilden Locken, wobei ihre Finger ständig hängen blieben und das Kopftuch herunterfiel. Ihr Blick fokussierte sich auf den leuchtend türkisen Farbhaufen. Frau Arslan hatte ihn ihr angeboten, als sie nach einem Kopftuch zum Beten gefragt hatte. Zwischen all den bunten Tüchern, die sie zur Auswahl gestellt bekommen hatte, war ihr Blick fast automatisch an diesem hängengeblieben. Vielleicht war es die satte Farbe gewesen, die vor Kraft und Energie strotzte? Kraft und Energie, die Rüya nicht hatte. Die sie aber brauchte, um ihr Leben weiterzuführen. Sie hatte danach gegriffen, den feinen Stoff in ihren Händen gehalten, während sie daran gedacht hatte, dass sie jetzt wahrscheinlich tot und blutend in einer Gasse liegen würde, wenn ihr Allah nicht Azad geschickt hätte, um sie zu beschützen. Ihr war mulmig zumute gewesen und in ihrem Bauch hatte sich eine Menge getan, als sie das alles realisierte. Als sie realisiert hatte, dass Azad vielleicht ihre einzige Aussicht auf ein besseres Leben war. Es waren keine einfachen Begegnungen. Es war kein Zufall, es war Schicksal.
Ihr ganzes Dasein war ihr verhasst. Ihr trostloses Leben war ein Gefängnis für sie. Wie sehr hatte sie sich in den letzten Jahren gewünscht, ein anderer Mensch zu sein? Wie oft hatte sie sich verzweifelt versucht gegen die Leere in ihrem Innern zu wehren? Wie oft war sie weinend zusammengebrochen? Sie hatte immer gedacht, sie sei alleine, aber was war, wenn Allah nur wollte, dass sie stark wurde?
Ohne Leid keine Glück, ohne Trauer keine Freude. Rüya hatte sich geschämt und wäre am Liebsten im Boden versunken, während sie daran gedacht hatte, dass sie Allah nie genügend gedankt hatte. Es war ein einfaches gewesen, das Leben zu verfluchen und zu hassen, sich nur auf das Negative zu fokussieren und ihren Blick in der Vergangenheit zu lassen; aber hatte sie sich auch nur ein Mal, ein einziges Mal, die Zeit genommen daran zu denken, warum das alles passiert war? Allah hatte ihr Selin gelassen, ihre kleine Schwester, ihr Ein und Alles. Den Tag überlebte sie wortwörtlich nur, weil sie sich an ihre Rolle als ältere Schwester und Beschützerin klammerte. Aber was war, wenn es noch eine andere Rolle gab? Wenn es noch einen Grund gab, weshalb sie die Zähne zusammenbeißen und durch das Leben gehen sollte?
Was war, wenn am Ende des Weges das Licht auf sie wartete?
Sie dachte an das Leben der Propheten, die ihre Mutter ihr als Kind immer erzählt hatte. Während andere Kinder Geschichten über Rotkäppchen und den bösen Wolf zu hören bekamen, hatte ihr ihre Mutter am Bett von den vielen Propheten erzählt, die Allah auf die Erde herabgesandt hatte, um den Menschen den Weg des Frieden, des Glücks und des Glaubens zu zeigen. Sie ließ sich all diese Erzählungen wieder durch den Kopf gleiten. Moses, Noah, Jesus, Muhammed und noch so viele mehr. Ein Schmunzeln hatte sich auf Rüyas Lippen gebildet, als sie sich daran erinnert hatte, wie sie ihre Mutter einmal gefragt hatte, wie viele Propheten Allah denn herabgesandt habe und warum es denn so viele seien. Da hatte ihre Mutter geantwortet, dass es so viele sein, dass wir Menschen nicht einmal genau wissen würden, wie viele es gab. Rüya hatte ihr gütiges Lächeln und die Wärme in ihren Augen noch heute vor ihrem inneren Auge. Wie ihre lockigen Haare vorgefallen waren, als sie Rüya eine Strähne aus der Stirn gestrichen hatte. »Weißt du denn, seit vielen Jahren es uns Menschen gibt?«, hatte ihre Mutter gefragt.
»Ja, seit sehr, sehr, sehr vielen Jahren. Millionen von Jahren.«
»Und weißt du auch, wie schnell Menschen Sachen vergessen? Kannst du dich noch daran erinnern, was du letzte Woche gegessen hast?« Mit großen Augen hatte Rüya ihren Kopf geschüttelt. »Na also«, hatte ihre Mutter erwidert, »man braucht viele Propheten, damit die Menschen Allah nicht vergessen. Und man braucht viele Propheten, weil die Menschheit sich ändert. Aber nach Muhammed, der Segen und Frieden Allahs sei auf ihm, hat Allah beschlossen keinen neuen Propheten mehr zu schicken, weil er der Ansicht ist, wir Menschen brauchen keine neuen Propheten mehr.«
Ein ungeduldiges Klopfen gegen die Tür reckte Rüya aus ihren Gedanken. Das leichte Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. »Rüya!« Azads Seufzen war durch die Tür zu hören. Ein dumpfes Geräusch ertönte. Er hatte sich doch nicht gegen die Tür gelehnt, oder? »Ich breche diese Tür ein, wenn du mir nicht innerhalb fünf Sekunden ein Lebenszeichen gibst!«
»Ich bin okay.« War das wirklich ihre Stimme, die so zittrig aus ihrem Mund kam? Das Herzklopfen war plötzlich wieder da, als sie die Tür öffnete und unvermittelt dem Mann ihrer Träume gegenüberstand. Seine schwarzen Brauen hatte er zusammengezogen, ein angespannter Zug lag um seine Mundwinkel. »Hör zu«, fing er an, »Ich weiß, diese ganze Situation ist total vertrackt. Wir sind alleine zusammen in einer Wohnung, das gefällt mir auch nicht. Leider können wir das nicht ändern, denn jemand muss auf dich aufpassen, falls der Typ wieder auftaucht und versucht, dir etwas anzutun. Also tu mir wenigstens den Gefallen und mach es nicht noch schwieriger, als es ist, okay?«
Ohne es zu wissen, verletzte er sie. Tränen traten in ihre Augen, die sie jedoch tapfer weg blinzelte. Ach, verdammt! Wortlos nickte Rüya, drehte sich wieder um und wollte die Tür zu stoßen, als er ein frustriertes Stöhnen ausstieß. »Rüya«, sagte er.
Rüya. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Rüya. Sie war bloß das Mädchen, das eine Bürde war. Sie hatte sich geirrt. Ihre Schwester hatte sich geirrt. Er war nicht anders. Er war genau wie alle anderen. Er nahm genauso wenig Rücksicht darauf, wie es ihr ging, wie alle anderen. Hatte sie die ganze Situation falsch eingeschätzt? Sie war bloß ein Job, eine Sache, die erledigt werden musste. Das war der Grund, weshalb sie alle Menschen von sich stieß. Sie hatte angefangen ihm zu vertrauen und diese Mauer um ihr Herz hatte einen Riss bekommen, ohne dass sie sich dessen wirklich bewusst gewesen war. Sie musste nach Luft schnappen, doch sie wollte sich ihre Verletztheit nicht ansehen lassen. Kurzerhand traf sie eine Entscheidung, glättete den Riss in der Mauer, wischte sich die Träne von der Wange. Sie war kein hilfsbedürftiges, kleines Mädchen mehr. Sie war nicht mehr dieses junge Ding, das schon damals mitleidige Blicke von Polizisten geerntet hatte. Sie war jetzt Rüya, die Rüya, die verdammte drei Jahre ohne die Hilfe eines einzigen Menschen zurechtgekommen war. Sie war Rüya, die immer wieder vom Leben in den Magen getreten worden war. Sie war Rüya, die es geschafft hatte, sich selber am Leben zu erhalten. Schwungvoll drehte sie sich um, ihr Blick kalt und hochmütig. »Hast du noch etwas zu sagen?«
Er guckte sie misstrauisch an. »Ich habe dir Sachen mitgebracht. Aus deiner Wohnung.« Vage deutete er auf die Reisetasche neben der Tür. Er war...in ihrer Wohnung gewesen? Sie musste an sich halten, um nicht zu erröten. Oh Gott, er hatte sich ihre privatesten Sachen abgeschaut! Schneidend sah sie von der Tasche zu ihm. Er hob die Augenbraue, verzog spöttisch den Mund. »Dachte, etwas zum Anziehen zu haben, wäre vielleicht angenehm. Scheint nicht so, als würdest du dich freuen.«
Sie zischte ihn an. »Bete zu Gott, er möge dir gnädig sein, wenn du meine Kleidung angefasst hast.« Sie war trotz ihres Vorsatzes rot geworden, was sie nur noch mehr ärgerte. Plötzlich musste er lachen. Unverschämt grinste er sie an. »Eine Kollegin hat die Tasche gepackt, keine Sorge. Zieh dich um, am besten Sportkleidung.«
»Warum?«
»Weil man in Sportkleidung Sport machen kann?« Er stellte sich absichtlich dumm, das wusste sie. In seinen Augen glitzerte Amüsement.
Provokant stellte Rüya die Gegenfrage: »Wenn ich mich weigere?«
»Dann kann es sehr ungemütlich für dich werden.«
Er hob ein letztes Mal verheißungsvoll seine Augenbraue, forderte sie wortlos auf und ließ sie dann alleine.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt