Zehn

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A Z A D



»Kaya!« Wenn Cara Blut gerochen hatte, dann gab es definitiv kein Entkommen mehr. Sie war unbeugsam, hartnäckig und verdammt stur. Leider hatte sie genau das getan. Cara hatte Blut gerochen und er war das Opfer. Innerlich verfluchte Azad Joshua, der ihm einen seiner berühmt berüchtigten Grinsen zuwarf, das ganz eindeutig Schadenfreude und Selbstzufriedenheit ausdrückte. Verdammt sollte dieser Arsch sein! »Ich mach dich kalt, Adams«, knurrte Azad verheißungsvoll. Spöttisch verzog Joshua die Lippen. »Kannst du ja gerne mal versuchen, wenn du das hier überlebst.«
»Du bist ein toter Mann.«
»Sagte der Tote.« Lachend lief Azads liebster Partner davon, warf ihn gnadenlos einem Hai zum Fraß vor. Cara hob eine ihrer Augenbrauen und sah ihn mit diesem speziellen undurchschaubar ausdruckslosem Gesichtsausdruck an, den sie sich immer für Verhöre reservierte. Na super! »Hab' gehört, du hast ein Mädchen?«, fing sie an. Azad kannte dieses Spiel. Schon viel länger, als Cara ahnte. Viel besser, als sie es beherrsche. Er lebte jeden Tag mit diesem Spiel. »Ich habe nichts gehört«, schoss Azad zurück. »Ich muss los, Cara.«
Erzürnt stemmte sie die Hände in die Hüften. Wüsste er nicht, wie gemein und gefährlich Cara werden konnte, hätte Azad belustigt gegrinst und sie aufgezogen damit. Aber Cara ärgerte man nicht, sonst bekam man es später doppelt so hart zurück. Und dass man es zurück bekam, war so sicher, wie dass die Erde eine Kugel war. »Ich stelle hier die Fragen, Kaya«, bellte die Blondine.
»Du willst nicht wissen, was passiert, wenn ich anfange die Fragen zu stellen. Also lass es sein, Cara.«
»Nie im Leben!« Sie beäugte ihn störrisch. Azad setzte ein betont lässiges Lächeln auf sein Gesicht, lehnte sich ebenso entspannt an den Türrahmen. »Bist du dir sicher? Noch kannst du entkommen. Vielleicht willst du ja zuerst einen kleinen Vorgeschmack?« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, um seine Worte bei ihr sinken zu lassen. Um sie anzulächeln; sie wissen zu lassen, dass er definitiv die Oberhand hatte, einen Trumpf in der Hosentasche, der sie ruinieren und all ihre schlimmsten Befürchtungen wahr machen konnte. Die junge Polizistin war bekannt für Ihre Hartnäckigkeit. So einfach ließ sie sich nicht abwimmeln. Ihre Augenbraue hob sich, ihr Gesicht unbeeindruckt. »Red keinen Scheiß, Kaya. Erzähl mir lieber endlich, wer dieses Mädchen ist.«
Wer dieses Mädchen war?
Die Antwort schien er selber nicht geben zu können. Wer war dieses Mädchen, das er ständig beschützen und retten wollte?
Warum regte sich jedes Mal ein Instinkt in ihm, gegen den er einfach nicht ankommen konnte?
Warum wollte er alles dafür tun, dass dieses Mädchen lachte; damit diese tiefen Schatten in ihren Augen verschwanden?
Warum war ihm der Gedanke unerträglich, sie Gefahren auszusetzen; sie hilflos zurückzulassen?
Eigentlich kannte er die Antwort darauf. Er kannte sie tief in seinem Innern, spürte sie wie ein unauslöschliches Feuer, doch er war noch nicht bereit. Bereit zu akzeptieren. Sich das einzugestehen würde heißen, sich mit einer Menge weiterer Fragen und Sachen herumschlagen zu müssen. Und das würde unweigerlich zu einer Entscheidung führen, die er würde treffen müssen, von der er nicht wusste, ob er dazu breit war. Er atmete tief ein, stieß die Luft wieder aus seinen Lungen. Kratzige Töne entstanden, als er sich mit der Hand übers Kinn strich.
»Okay, weißt du was«, sagte Cara plötzlich, »vergiss es. Früher oder später werde ich es herausfinden. Manchmal habe ich das Gefühl...« Sie zögerte, als würde sie sich nicht ganz sicher sein, ob sie weitersprechen sollte. Sie schaute in seine ausdruckslosen Augen. Vielleicht war es dieses Fehlen der Gefühle, das sie dabei wieder einmal entdeckte, das sie dazu brachte, den angefangenen Satz zu beenden. Vielleicht wollte sie ihn aber auch nur beenden. »Manchmal habe ich das Gefühl, du kannst nicht anders, als zu schweigen. Irgendwann wirst du mehr Fragen beantworten müssen, als dir lieb sein wird. Nicht heute, vielleicht auch nicht morgen. Aber irgendwann.«
Jede Frage verlangt eine Antwort, Azad, vergiss das nie. Irgendwann wird man dich fragen und du wirst antworten müssen.
Gerade jetzt kamen ihm die Worte in Erinnerung, die er sich vor all der Zeit gemerkt hatte. Gesprochen von einer Stimme, die er danach nie wieder gehört hatte, aber niemals vergessen konnte.
Diese Worte bestimmten seine Zukunft.

»Hast du die Tasche dabei?« Necmiye klang gestresst und etwas verpeilt

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»Hast du die Tasche dabei?« Necmiye klang gestresst und etwas verpeilt. Azad, der die lässige Pose des am Türrahmen lehnenden Beobachters angenommen hatte, deutete auf die Sporttasche in seiner Hand indem er sie hochhob. »Warum diese Eile?«, fragte er interessiert. Seine Tante hatte nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen nachdem sie ihm die Tür geöffnet hatte. Empört schnaubte Necmiye. »Weil du, mein lieber Junge, zu spät gekommen bist. Wegen dir werde ich jetzt zu spät zur Arbeit kommen.« Sie hatte ihren Mantel um ihren Arm gelegt, als sie aus ihrem Schlafzimmer marschiert kam. Ihre scharfen Augen musterten ihn kritisch. »Oğlum, sen bu gece uyumadın mı? [Mein Junge, hast du diese Nacht nicht geschlafen?]«
Ihr waren also die tiefen Ringe unter Azads Augen nicht entfallen. Natürlich. Und natürlich sprach sie ihn darauf an. Zu Azads Leidwesen. Während andere Tatsachen wie diese bewusst ignorierten, sie totschwiegen, machte Necmiye Teyze es sich zur Aufgabe sie anzusprechen und jeder kleinen Spur nachzugehen. Die Sorge in ihrem Blick entging Azad nicht. Auch nicht, dass sie ihm, genau wie eine Mutter es tun würde, den Kragen glatt strich. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er es war, deswegen musste sie den Kopf leicht nach hinten legen. »Bak oğlum, öyle olmaz. Git biraz yatağa yat. Kendine eziyet etme. [Schau, mein Junge, so geht das nicht. Geh etwas schlafen. Quäl dich nicht selber.]« In ihren hellgrünen Augen erkannte er all die tröstliche Sorge, die ihn innerlich pfählte und gleichzeitig heilte. Er musste den Blick abwenden, ertrug es nicht länger. Er schaffte es nicht, dem grausamen Schmerz in seinem Herzen zu entkommen. Ihm würde er wohl immer zum Opfer fallen. Der Verlust saß so tief, die Sehnsucht fraß ihn auf. Doch gleichzeitig hatte er vermisst, wie sich diese Wärme anfühlte. Könnte doch nur jemand so lieben wie sie...
Necmiye schüttelte schnalzend den Kopf. »Ah, bu kara dünya, ah...[Oh, diese dunkle Welt, oh...]« Sie verstand ihn besser, als ihm lieb war und das sorgte dafür, dass er sich stets unwohl fühlte. Es war ihm lieber, wenn nur Gott ihn verstand.
»Schau nach Rüya, ja? Sie ist den ganzen Tag nur zweimal rausgekommen.«
Er nickte, lächelte seiner Tante zum Abschied zu. Diese tätschelte ihm die Schulter, ehe sie in ihre Schuhe stieg und das Haus verließ, bis nur noch Azad ihr hinterherschauend zurückblieb. Als sei die Zeit stehen geblieben. Als sei alles bloß ein Traum.
Würde jemals jemand nach ihm suchen, er würde ihn gewiss in der Zeit finden; zurückgeblieben und sich selber vergessen in einer Lüge, die die Zeit gesponnen hatte.
Vorsichtig ging eine Tür auf. Doch er hörte nicht das Quietschen, das leise Raspeln und Wispern, die dabei entstanden. Rüya stand an der Tür und war ganz erstarrt. Worte wollten aus ihrer Kehle, doch es war, als wüsste sie nicht ganz, was zu sagen war. »Ich wollte dir danken.«
Die zögerlich weiche Stimme erschreckte Azad. Zusammenzuckend fuhr er herum, bis er sie sah. Bis er die gesenkten Blicke entdeckte, die blasse Haut und die schwarzen Locken, die unter einem locker umgeworfenen Schal verborgen waren. Wenn jemand ihn jemals finden könnte, dann wäre es Rüya. Nur Allah hatte ihr die Kraft dazu gegeben. Vielleicht, weil sie sich ähnlicher waren, als sie dachten. In der sich ausdehnenden Stille klang seine Stimme ganz rau, ganz roh - wie ein unerwünschter Eindringling. »Wofür?«
Einen kurzen Blick wagte sie in seine Augen. Sie rang mit sich, ihre Augen schweiften ständig ab. »Dass du mir mein Leben gerettet hast.«
Er musste lächeln. Es war wohl alles, was sie zu sagen hatte. »Das ist nichts, wofür du dich bedanken musst, Rüya. Das ist mein Job.«
Sie widersprach nicht, schien versunken in sich selber zu sein. »Rüya?«
Sie zuckte zusammen.
»Geht's dir gut?«
Wortlos nickte sie, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Sie hatte ihn kein einziges Mal angeschaut. Ihr sonderbares Verhalten machte Azad zu schaffen, doch wer war er, dass er ihr nachsetzte? Sie kannten sich nicht, waren zwei Fremde, die ständig aufeinandertrafen.
Deren Wege vom Schicksal gezeichnet waren.

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