Dreizehn

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R Ü Y A


Es waren Stunden vergangen, aber sie konnte nicht loslassen. Sie fühlte sich rastlos, als sie ans Fenster trat, hinter dem die nächtliche Schwärze nur durch Lichter geschmückt wurde. Das letzte Mal, als sie dieses Gefühl der fast schon nervöser Erwartung hatte, war lange her. Sie hatte es nie bemerkt, doch sie hatte schon lange aufgehört richtig zu leben. Es bedurfte einem übermächtigen Schmerz, um Menschen dazu zu bringen, Gefühle zu verschließen. Sie hörte die Haustür, die aufgeschlossen wurde und dann wieder ins Schloss fiel. Stundenlang hatte sie darauf gewartet, dass Azad zurückkam. Sie hoffte mit guten Nachrichten. Sie hoffte, er würde ihr sagen können, wer sie tot sehen wollte. Er kam nicht sofort zu ihr. Sie lauschte dem Rascheln, als er seine Jacke auszog; das Geräusch von Schuhen, die ordentlich zur Seite gestellt wurden. Necmiye Teyze hatte sich diskret zurückgezogen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es ihrem Gast an nichts fehlte. Vor allem nach dem Anfall, den am Mittag bekommen hatte.
»Du bist noch auf?« Seine Stimme kam Rüya so laut vor, nachdem sie stundenlang nur ihre eigenen Gedanken gehört hatte. Sie drehte sich nicht um und er kam näher. »Ja«, sagte sie, als er sich an das Fenster neben ihrem lehnte; mit dem Gesicht zu ihr. »Habe auf dich gewartet.«
»Bloß eine Sackgasse. Tut mir leid, dass du umsonst gewartet hast.«
Es war enttäuschend. Sie konnte es sich nicht leisten, noch länger von der Arbeit fernzubleiben. Schließlich hatte sie eine Wohnung - so schäbig sie auch sein mochte - zu bezahlen. Alles, was Rüya tat, war ihren Kopf an die kühle Scheibe zu lehnen. Die einvernehmliche Stille war ein schönes, beruhigendes Gefühl. »Darf ich dich etwas fragen?« Es war erstaunlich, dass seine Frage diese Stille nicht zerstörte. Den Einklang und die Schönheit der Stille. Statt einer Antwort schaute sie ihm einfach nur stumm in die Augen, die bereits musternd auf ihr lagen. »Gibt es bestimmte Auslöser für deine Anfälle?«
Nonchalant zuckte Rüya mit ihren Schultern. »Stress, körperliche Anstrengung, psychologische Effekte, Panik...«
Er nickte. Der Ärmel ihres Oberteils wurde zum Opfer ihrer Nervosität. Sie schluckte und rüstete sich innerlich für die Worte, die folgen würden. Für die Worte, die sie noch nie einem Menschen gegenüber offenbart hatte. »Vor...vor einigen Jahren...sind meine Eltern gestorben.« Tief nahm sie Luft, warf ihre Locken nach hinten. Sie spürte Azads Blick wieder auf sich ruhen, diesmal überrascht. Doch sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen. Die Worte hatten einen bittren Beigeschmack. Sie zum ersten Mal nach all der Zeit auszusprechen war schwieriger, als sie angenommen hatte. »Ich war nicht immer so, weißt du«, erzählte Rüya. »Sekunden können dein Leben auf den Kopf stellen. Bei mir haben sie nicht nur mein Leben auf den Kopf gestellt, sie haben es vollständig zerschlagen ohne einen Teil unversehrt zu lassen. Die Sekunden wurden zu Minuten. Und schließlich wurde alles zur Realität. Ich hatte schon davor Beschwerden mit meiner Lunge, aber erst danach wurde es so schlimm. Davor hatte es sich immer in Grenzen gehalten. Ich war siebzehn, als Selin und ich komplett auf uns alleine gestellt leben mussten. Im Nachhinein kommt mir das erste halbe Jahr wie ein böser Traum vor. Ich kann nicht sagen, wie ich überlebt habe. Was ich gemacht habe. Der erste Monat war am grausamsten. Ich hatte fast täglich Anfälle, in denen ich unter Atemnot litt. War fast durchgängig im Krankenhaus. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt. Es wurde nicht einfacher, aber es wurde zur Normalität. In all dieser Zeit...in all diesen Jahren habe ich jede Minute und jede Stunde mit der Gewissheit gelebt, dass mir kein Mensch helfen wird. Gott«, sie stieß ein freudloses Lachen aus, um die Tränen zurückzudrängen, »das hört sich so armselig an.«
»Es hört sich wie die Wahrheit an. Wie das Leben«, erwiderte Azad. Jetzt schaffte sie es doch seinen Blick zu erwidern. »Warum?«, flüsterte sie. »Warum tust du das alles, Azad?«
Er stieß etwas aus, das ein Lachen hätte sein können, dafür aber zu kurz und zu humorlos war. »Weil ich weiß, wie es ist, wenn Sekunden dein Leben zerstören.« Sein Blick wurde intensiver, während sich Wehmut und Trauer in diesen Blick mischten. »Deine Augen haben mich wie kaltes Wasser getroffen, Rüya. Ich habe in sie geschaut, das erste Mal, dass ich dich gesehen hatte, und sie waren kaltes Wasser.«

»Es gibt Neuigkeiten

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»Es gibt Neuigkeiten.« Das Rascheln von Azads Winterjacke begleitete die Worte, als er die Küche betrat. Rüya blickte vom Esstisch aus auf, gespannt, was Azad ihnen gleich mitteilen würde. Necmiye erstarrte verwundert in ihrer Bewegung. Sie war dabei gewesen die Kartoffeln für das Mittagessen zu schälen. »Setz dich doch erst mal, mein Junge. Dann kannst du in Ruhe erzählen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur kurz vorbeischauen, um die Nachricht zu überbringen. Muss gleich wieder auf's Revier, wir haben eine Menge Arbeit vor uns. Muss ein paar Überstunden machen.«
»Na dann, wir sind gespannt.«
»Wir glauben, dass es der Schütze gar nicht auf dich abgesehen hat«, eröffnete er Rüya. »Sondern dass es eine Verwechslung gab. Deine Kollegin Adria hat sich in letzter Zeit verfolgt gefühlt. Sie meinte, meistens hätte sie dieses Gefühl gehabt, wenn sie abends aus dem Dinner nach Hause gelaufen sei. In den letzten Tagen, kurz nach der Schießerei, hätte sich das Gefühl immer weiter gesteigert. Heute Morgen wurde bei ihr eingebrochen und eine Nachricht hinterlassen: eine Kugel. Die Untersuchungen haben ergeben, dass es genau dieselbe Kugel ist, mit der auch der Schütze auf uns geschossen hat.«
»Adria hat auch schwarze Locken«, murmelte Rüya nachdenklich. Azad nickte. »Mehr kann ich dir nicht sagen, die Untersuchungen laufen. Ich würde dir raten hier zu bleiben, bis wir uns hundertprozentig sicher sein können, dass die Gefahr vorüber ist.«
Geschmeidig glitt er an die Anrichte und öffnete geschäftig einige Schränke. »Ich nehme die Tasse mit«, teilte er seiner Tante mit, während der Geruch von frisch aufgegossenem Kaffee durch den Raum waberte. Necmiye Teyze schüttelte lächelnd den Kopf. »Was würdest du nur ohne deinen Kaffee machen?«
Schalkhaft grinste Azad seine Tante an, strich sich eine verirrte Strähne aus der Stirn. »Wahrscheinlich sterben.«
Sein jungenhaftes Grinsen erwärmte Rüyas Herz und brachte es zum Flattern. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Niemand nahm Notiz von diesem Lächeln, dachte sie zumindest. Mit einem kurzen Salut verabschiedete er sich von ihnen. »Ich bin weg, wir sehen uns später.«
»Warte, ich mach dir schnell was zum Mitnehmen!« Necmiye Teyze stand hastig auf, obwohl Azad erwiderte, dass es nicht nötig sei. Streng sah sie ihn an, während sie zwei Brötchen, die noch vom Frühstück übrig geblieben waren, anfing zu belegen. »Du brauchst Essen, damit zu Kraft hast, Azad Kaya! Joshua wird sich bestimmt auch über etwas zu essen freuen.«
Kapitulierend murmelte Azad: »Dieser Vielfraß freut sich über alles Essbare.« Drohend hob Necmiye das Buttermesser in die Richtung ihres Neffen. »Muss ich dir erst noch beibringen, dass man seine Freunde nicht beleidigt, Azad?!«
»Bedrohst du mich gerade mit einem Buttermesser? Ich könnte dich dafür festnehmen. Außerdem kann die Wahrheit wohl nicht als Beleidigung durchgehen.« Sein Grinsen war ansteckend und auch Necmiye Teyze musste versuchen, ein Schmunzeln zu kaschieren. Nachdem sie die Brötchen in Alufolie gepackt hatte, reichte sie diese Azad und begleitete ihn nach draußen. Ehe er die Küche verließ schenkte er Rüya noch einen Blick aus funkelnden Augen und zwinkerte ihr zu.
»Er ist verrückt, dieser Junge, aber er gehört zu den Guten«, meinte Necmiye Teyze, als sie wieder zurückkam. Sie schmunzelte. »Manchmal braucht er nur jemanden, der ihn hin und wieder daran erinnert, dass man sich um ihn kümmert.«
So wie du, schien sie sagen zu wollen. Rüya blieb still, machte sich daran die Tomaten in kleine Würfel zu schneiden. »Kommst du später noch mit zum Putzen? Du scheinst ja jetzt erst einmal außer Gefahr zu sein.«
Nickend machte sie sich nun daran, die Kartoffeln zu schneiden, die Necmiye Teyze schon geschält hatte. Necmiye Teyze hatte sie daran erinnert, dass sie noch Geld brauchte. Durch ihr Fehlen würde sie einige Verluste haben. Sie konnte nur hoffen, dass sie noch genügend Geld zusammentreiben konnte, um die Miete zu bezahlen. Der verdammte Schütze war Schuld daran, dass sie seit Tagen nicht arbeiten konnte und es fühlte sich befreiend an, zu wissen, dass sie heute wieder zur Arbeit gehen konnte. Eine Last weniger auf ihren Schultern. Außerdem würde sie noch nach Selin schauen müssen. Ihre kleine Schwester machte sich sicherlich schon Sorgen, weil sie sie eigentlich schon vor Tagen besuchen kommen wollte.

Wandelnder TraumOù les histoires vivent. Découvrez maintenant