Zwei

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A Z A D




Frustriert fuhr er sich mit der Hand durch die schwarzen, dichten Haare. Das monatliche Treffen mit seinem Berater war wie üblich abgelaufen. Nichts Neues. Keine Fortschritte. Schon seit drei Jahren gab es keine Fortschritte. Er war dazu verdammt, dieses Leben zu leben.
Er verstand sich gut mit Nico, der ihm mit der Zeit zu einem beständigem Freund und Unterstützer geworden war. Nichtsdestotrotz wünschte er sich manchmal, die Dinge würden anders laufen.
Zusammen mit seinem Telefon zog er die Zigarettenpackung aus seiner Jackentasche, warf kurz einen Blick auf das Display mit den aufleuchtenden Zahlen, die ihm die Uhrzeit anzeigten, ehe er eine Zigarette aus der Packung zog und sie sich in den Mundwinkel steckte.
Es war bereits sehr spät und er hatte seiner Tante, Necmiye, versprochen sie von der Arbeit abzuholen. Ihr Auto war in der Werkstatt, seitdem er letzte Woche urplötzlich den Geist aufgegeben hatte. Es war eisig draußen. Die Nacht kalt und dunkel. Genauso kalt, wie sich dieses Leben anfühlte.
Azad stieg in den schwarz glänzenden Range Rover, der unter der Straßenlaterne parkte. Er steckte den Schlüssel in den Schlüsselloch und startete den Motor. Mit einer altbekannten Lässigkeit lenkte er den Wagen, der sich in jede Kurve und jede Abbiegung schmiegte. Der Motor erfüllte den Innenraum mit einem wohligen Schnurren. Der Range Rover, den er sich vor einem Jahr gekauft hatte, war alles, was ihm noch etwas bedeutete. Das Auto war der reinste Traum für Azad. Vor einigen Monaten hatte er angefangen, den Motor aufzumotzen und jetzt war er ihm sogar noch wichtiger, als davor.

Als er vor dem Firmengebäude ankam, in dem seine Tante putzte, parkte er das Auto an der Seite. Die Bäume, die die Straße kraftvoll umrandeten, verbargen ihn fast vollständig in ihren Schatten. Trotz der vereinzelten Straßenlaternen war es doch dunkel.
Unvermittelt wurde die Eingangstür des protzigen Gebäudes aufgestoßen und eine junge Frau kam herausgelaufen. Augenblicklich schlang sie die Arme um sich, doch kurz darauf löste sie ihre Haare, die in ihrer vollen Pracht auf ihre Schultern hinabflossen. Wie gebannt beobachtete Azad ihre routinierten Bewegungen, als sie die wilden Locken zu bändigen versuchte. Als sie sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick genau auf ihn. Sie begegneten sich Auge in Auge. Leider stand er viel zu weit von ihre entfernt, um die Farbe ihrer Iris erkennen zu können, die ihn plötzlich brennend interessierte. Sie schien erstarrt zu sein. Genauso wie er. Dabei hatte er es nicht einmal bemerkt, bis er die Starre von sich warf und seinen Weg fortsetzte. Es war nicht gut, wenn er sich von einer Frau abbringen ließ. Die Frau setzte sich ebenfalls wieder in Bewegungen; ihre Schritte schneller und hastiger, als davor. Azad musste schmunzeln bei dem Gedanken, dass sie vor ihm floh. Genau dort, wo die Frau herausgekommen war, ging er herein und sah auch schon seine Tante.
Sie blickte auf, schenkte ihm ein Lächeln. Die Fremdheit, die zwischen ihnen herrschte, passte nicht zu dem Bild der Tante und des Neffen. Sie hatte ihn nicht aufwachsen sehen, wie eine Tante es hätte tun sollen. Sie wusste nicht einmal, wie er als kleiner Junge aussah. Trotz dessen, dass er noch vor einem halben Jahr bei ihr gelebt hatte, war die Fremdheit nie ganz abgefallen. Sie war eine lebhafte Frau, die nie eigene Kinder gehabt hatte. Nach zwei Ehen, die nicht funktioniert hatten, hatte sie es aufgeben einen Mann zu finden.
»Musst du heute noch zum Dienst?«, fragte Necmiye.
»Ja«, antwortete er. »Ein Kollege ist nach Hause gegangen und ich habe mich bereit erklärt, einzuspringen.«
Er wartete noch, bis seine Tante vollständig unterschrieben hatte, als einer der Sicherheitsmänner um die Ecke gelaufen kam. »Frau Özdemir und ich sind bereits fertig«, rief sie ihm zu. »Einen guten Abend wünsche ich noch!«
Der stämmige Typ musterte Azad kurz, ehe er seiner Tante zunickte. »Ihnen auch.«
Trotz seiner sechsundzwanzig Jahre wirkte Azad jünger, als er aussah. Die Leute schätzten ihn meistens auf Anfang, nicht schon Mitte Zwanzig.  Müde strich er sich über den unrasierten Kinn und folgte seiner Tante hinaus. Dabei ließ er seine Augen wachsam über den dunklen Parkplatz streifen - eine Angewohnheit, die ihm mittlerweile so vertraut war, dass er sie nicht einmal mehr bemerkte, wie er sie ausführte. Azad mochte es nicht, überrascht zu werden, vor allem nicht überrumpelt.
Seine Tante fing munter an, davon zu erzählen, wie froh sie war endlich mit der Arbeit fertig zu sein. Er hörte ihr höflich zu, konnte gerade so flüchtiges Interesse dafür aufbringen. Seine schlechte Laune, die üblich mit den Treffen mit seinem Berater einherging, machte es ihm schier unmöglich, sich auf das zu konzentrieren, was Necmiye Arslan sagte. Für gewöhnlich war Azad nicht abgeneigt von den ausschweifenden Erzählungen seiner Tante, doch die Frustration, die sich nicht abstellen ließ, beeinflusste ihn. Sie waren gerade erst eingestiegen und hatten sich angeschnallt, als seine Tante ein tiefes Seufzen ausstieß. »Du hast dich mit Nico getroffen, stimmt's?«
Augenblicklich durchfuhr ihn der Anflug eines schlechten Gewissens. Er legte die Hände auf den Lenkrad, während er den Motor startete. »Jap«, meinte er schlicht mit einem Seitenblick zu Necmiye, die ihn nicht aus ihren Augen ließ. »Ich sag's dir, Junge, lass los, bevor dich das alles auffrisst. Du bist ein guter Mann, Azad, egal, was passiert ist und was war. Lass nicht zu, dass dich diese Entscheidung; dass dich dieses Leben bestimmt.«
Wütend funkelte er sie an. Seiner Frustration Ausdruck verleihend, fuhr er sich mit der linken Hand durch die vollen Haare. »Denkst du, das ist so einfach? Ich kann nicht vergessen, Teyze [Tante], und das nagt an mir. Wie kann man sein Leben aufgeben?«
»Ah«, machte sie urplötzlich verwundert, während sie aus dem Fenster schaute, »das ist doch Rüya! Halte an, wir sollten sie heimfahren, ehe sie hier noch erfriert.«
Mit einem Blick aus demselben Fenster entdeckte er die junge Frau von vorhin. Während seine Tante ihr anbot, sie nach Hause mitzunehmen und sie dagegen protestiert, wurde ihr zerbrechlicher Körper von einem Hustenanfall erschüttert. Selbst im Dunkeln konnte Azad die Blutflecken erkennen, die sich von ihrem Cadigan abhoben. Es dauerte nicht lange, bis Necmiye sie überredete, sodass sie die Tür öffnete und hinten einstieg. Er beobachtete ihre zaghaften und doch kraftvollen Bewegungen, als sie sich auf den Sitz gleiten ließ. Eine gewisse Tollpatschigkeit schwang dabei mit, über die Azad ein Schmunzeln unterdrücken musste.
»Danke schön«, bedankte sich Rüya. Die Erschöpfung war ihr in diesem einen Wort mehr als deutlich anzuhören. Seine Tante lächelte ihr großmütterlich zu. Gott, würde diese Frau jedem gegenüber diesen ausgeprägten Großmutter/Tante-Sinn entwickeln?
Als er schließlich losfuhr, fiel ihr Blick in den Rückspiegel.
Sie sah ihn an. Ihre Augen wurden unmerklich größer. Augen, die glanzlos und von Schatten bewölkt waren. Augen, die ihre zerbrechliche Seele zur Schau stellten.
»Wohin?«, fragte er sie plötzlich, als sie immer noch keine Adresse genannt hatte und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Unmerklich zuckte sie zusammen, ehe sie ihm ihre Adresse nannte.
Diese Stadt war groß und schön, aber nicht minder gefährlich. Sollte er sich sorgen, weil sie in eben diesem gefährlichen und heruntergekommenen Stadtteil lebte?
Es kam nicht selten vor, dass er in nächtlichen Streifzügen zu diesem Viertel fahren musste. Meistens wegen Schlägereien, Einbrüchen und Vergewaltigungen. Und das waren gerade mal die Fälle, die gemeldet wurden. Die Bewohner dieser Teile hatten schon zum größten Teil ihre Hoffnungen aufgegeben. Sie lebten, um zu überleben. Auch die Hoffnung in den Staat und auf Hilfe war in ihren Augen vor langer Zeit verloren gegangen. Es herrschten keine Gangs, aber große Waffenkriminalität.
Ein Ort in einer Stadt, der wie eine eigene Stadt; wie ein eigenes lebendiges Lebewesen wirkte.

Rüya bedankte sich freundlich, aber dennoch reserviert, bevor sie ausstieg. Das Haus, auf das sie zulief, war sehr alt. Farbe blätterte an manchen Stellen ab. Eine Tür weiter lungerten betrunkene, wahrscheinlich auf bekiffte, Männer herum. Sie riefen Rüya etwas unverständliches zu, woraufhin sie lauthals in Gelächter ausbrachen. Sie nuschelten und lallten viel zu sehr, als dass man sie verstehen konnte, aber anhand der lüsternen Blicke, die sie ihr ununterbrochen zuwarfen, konnte er sich zu gut vorstellen, was sie gerade sagten. Mühsam unterdrückte Azad seine Wut, die heißblütig durch seine Adern jagte. Als dann auch noch einer schwankend aufstand, musste er sich förmlich dazu zwingen, das Lenkrad nicht zu fest zu umklammern. Rüya schien Probleme mit dem Schloss zu haben.
»He, Kline«, lallte der Mann und war jetzt fast bei ihr. Er streckte die Hand nach ihr aus, woraufhin sie fast unmerklich zusammenzuckte. Das war der Moment, in dem Azad wusste, er würde nicht mehr sitzen bleiben. Grimmig riss er die Fahrertür auf und war mit einer einzigen, geschmeidigen Bewegung auf seinen zwei Beinen. Lässig überkreuzte er die auf der Autotür abgestützten Arme. »Gibt's Probleme?«
Der Mann schaute schwankend zu Azad, der ihm sein unheilverkündendes Grinsen zeigte. »Was'n dat für 'ner, he?«
Rüyas Blick glitt zu ihm, ihre Miene war erstarrt und doch konnte er die Furcht ganz deutlich aus ihr ablesen. Täuschend unbekümmert verließ Azad seine lässige Stellung, lief elegant auf sie zu und stellte sich zwischen Rüya und dem betrunkenen Mann. »Ich sag Ihnen mal etwas. Fassen Sie sie auch nur an und ich sorge dafür, dass Sie verhaftet werden. Haben Sie mich verstanden?«
Der Mann taumelte etwas zurück. »Bist'n Cop, oder wat?«
Seine Freunde lachten erneut, als er schwankte.
»Es wäre doch ganz schlecht für Sie, wenn Sie einen Cop gegen sich aufbringen würden, finden Sie nicht auch?« Azads Lächeln hatte nichts freundliches an sich. Vielmehr war es der Inbegriff etwas Raubtierischen, Wildem, das Furcht und Angst versprach. Rüya hinter ihm schien jetzt endlich den richtigen Schlüssel gefunden zu haben. Er hörte, wie die Tür aufschwang. Der Mann hob kapitulierend seine Hände. »Is' ja gut, Mister. Ich mak nicks!«
»Das hoffe ich auch beim nächsten Mal für Sie.« Als der Mann Azad nicht länger interessierte, drehte er sich zu Rüya. Mit bleichen Augen guckte sie ihn an. Mit dem Kinn deutete er den Flur ins modrige Treppenhaus. »Geh rein!«, befahl er hart. »Ist da drinnen jemand, der dir gefährlich werden könnte?«
»Nein«, krächzte sie, ehe sie sich räusperte. Sie legte sich eine Hand auf die Kehle. »Das wäre nicht nötig gewesen«, meinte sie mit stur vorgerecktem Kinn.
In ihren ernsten Augen, die die Farbe von Veilchen reflektierten, konnte er lesen, dass solche Vorfälle nicht selten passierten. Verdammt, konnte dieses Mädchen nicht woanders wohnen?!, ärgerte er sich innerlich. Er bemühte sich, die Hände nicht zu Fäusten zu ballen. Er ignorierte ihre Worte, befahl erneut: »Geh rein!«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich komme alleine klar. Sie können mir nichts befehlen.«
Herausfordernd, und gleichermaßen überrascht von ihrem plötzlichen Starrsinn, hob er die Augenbraue. »Tu uns beiden den Gefallen und geh endlich rein. Wenn du drinnen bist, schließt du die Tür hinter dir ab, verstanden?«
»Ja, Daddy. Verstanden.« Spöttisch verzog sie ihren Mund zu einem ironischen Lächeln.
»He, Mister. Gibt's Probleme mit Ihrer Lady? Wenn sie Sie nich' wil', keine Sorge, hier sind noch drei and're!« Die Betrunkenen wieherten wie wild.
»Wenn eure drei jämmerlichen Ärsche gleich im Knast stecken, wird es keine drei anderen geben!« Er drehte sich nicht einmal um, als er ihnen drohte. Stattdessen lieferte er sich ein Blickduell mit der sturen Rüya, der damit endete, dass sie einen Hustenanfall kriegte. Von einem Moment auf den nächsten wurde ihr Körper von heftigen Beben heimgesucht, die sie fast in die Knie zwangen. Zittrig krallte sie sich am Türrahmen fest, während sie versuchte Luft zu holen und dem Husten ein Ende zu setzen. Azad fühlte sich mit einem Mal hilflos; konnte nur die Tür mit dem Fuß aufhalten und ihr dabei zuschauen, wie sie den mühsamen Kampf gegen den Husten gewann. Einige Sekunden brauchte sie, um sich zu sammeln und zu Kräften zu kommen.
»Soll ich dich mit nach oben begleiten?«, fragte Azad. Sie schüttelte den Kopf. »Brauchst du nicht!«
Belustigt strich er sich über den Kinn. »Vorhin war es noch ›Sie‹.«
Mit ihren Augen giftete sie ihn an. »Brauchen Sie nicht. Sind Sie jetzt zufrieden?«
»Eigentlich«, meinte Azad verschlagen, »gefällt mir ›du‹ viel besser.«
Sein amüsiertes Grinsen ließ ihn jünger wirken. Fast wirkte er wie ein Junge auf der Schulbank, der sich einen heimlichen Streich erlaubt hatte. Rüya verdrehte ihre Augen, während sie ihm den Rücken zukehrte.

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