Neununddreißig

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A Z A D


Mit dem Gefühl zu ersticken, lief Azad eiligen Schrittes aus dem Saal. Die Pause war nur als eines zu beschreiben: Erlösend! Er schwitzte. Scheiße, verdammt, Schweiß rann ihm wirklich an den Schläfen hinab! Er steckte einen Finger in den Kragen seines Hemdes und versuchte sich so etwas Luft zu verschaffen. Als er sich dann über den mittlerweile von Stoppeln bedeckten Kinn fuhr, spürte er das Metall an seinem Ringfinger nur zu deutlich. Warum waren bloß so viele Leute in diesen Fluren? Er versuchte sich einen Weg durch sie hindurch zu bahnen, stieß ab und zu welche an. Ihre empörten Ausrufe interessierten ihn nicht einmal. Unablässig wanderten seine Augen durch die Gegend. Würde sie noch hier sein? Würde sie auf ihn gewartet haben? Er erlaubte sich nicht an all die anderen ›würde‹-Fragen zu denken. Da waren viel zu viele - und viel zu viele verneinende Antworten.
Plötzlich entdeckte er diesen speziellen schwarzen Lockenkopf, den er selbst dann erkannte, wenn sie so wie jetzt zu einem Zopf geflochten waren. Erleichterung durchflutete ihn. Sie war noch da! Selbst aus der Entfernung konnte er sehen, wie steif sie wirkte. Selin saß neben ihr auf der Bank. Er wollte gerade zu ihr hinüberlaufen, ihr alles erklären, mit ihr reden. Sie anbetteln, was auch immer. Er machte seinen ersten Schritt, voller Nervosität und Unsicherheit, als eine Stimme ihn urplötzlich erstarren ließ.
»Anıl?« Sie war leise und zögerlich. Und sie durchfuhr ihn wie ein gewaltiger Lastwagen. Ihm wurde plötzlich schlecht. Hatte er davor schon gedacht, dass er in der Scheiße steckte, dann tat er jetzt mehr als nur das. Ein Zittern befiel ihn. Leichenblass drehte er sich mit zusammengekniffenen Augenbrauen um. In seinem Inneren riss etwas auf und ein gewaltiger Sturm brach aus. Zuerst sah er die ältere Frau erst gar nicht, die ihre Handtasche fest umklammernd an der Wand stand. Sie starrte ihn an, der Blick ängstlich und voller Hoffnung. Als er sie endlich mit seinen blauen Augen erfasste, erzitterte sie sichtlich. Aufgeregt drehte sie sich zu einer Person, die Azad vorher nicht gesehen hatte, weil sie von den umstehenden Personen verdeckt worden war. »Gerçekten o! [Er ist es wirklich!]«, schrie sie aufgeregt nach hinten. Azad hatte das Gefühl zu Stein geworden zu sein. Unsagbarer Schmerz durchfuhr ihn. Er wandte den Blick ab, sah zu Rüya. Sie schaute ihn ebenso an. Als hätte sie ihn genauso bemerkt wie er sie. Er wollte zu ihr, endlich mit ihr reden. Spannung machte sich in ihm breit.
»Anıl?«, richtete sich die Frau wieder an ihn. Er konnte dem Blick in ihren Augen nicht standhalten. Alles in ihm schrie, wollte wegrennen. Wollte nicht hier sein. Das hier sollte niemals passieren! Wie hatte alles nur so durcheinanderkommen können?
Sie lief jetzt auf ihn zu, ihre Schritte waren sichtbar wacklig. Komischerweise hatte er Angst, dass sie fiel. Dann stand sie plötzlich direkt vor ihm. Den Kopf nach hinten gelegt, weil er ein ganzes Stück größer war als die Frau, schaute sie ihm mit Tränen in den Augen an. Ihre Unterlippe zitterte. »Anıl, gerçekten senmisin? [Bist du das wirklich?]«
Die jüngere Frau, an die sie sich gewandt hatte, kam jetzt auch bei ihnen an. Sie warf einen bitterbösen Blick über ihre Schulter zu den Personen hinter ihr, ehe sie sich neben die ältere Frau stellte. Auch sie erstarrte. »Anıl?«, entfuhr es ihr überstürzt. Sie wurde kreideweiß und starrte Azad an. Azad musste seine Zunge verschluckt haben. Er konnte nichts sagen. Nicht einmal bewegen konnte er sich.
»Niye bir şey söylemiyor?! [Warum sagt er nichts?]«, wandte die Frau sich mit brechender Stimme an die jüngere Frau. Dann wieder an Azad. »Anıl, bir şey söylesene! [Anıl, sag doch etwas!]«
Sie wurde leicht hysterisch und Tränen liefen ihr jetzt ungeniert über das Gesicht. Die Jüngere von beiden legte ihr den Arm um die Schulter. »Biraz sakinleş, tamam? [Beruhig dich etwas, okay?]«, bat sie die Frau leise und drückte ihre Schulter. Die lugte zu Azad, der sich immer noch nicht bewegen konnte. Als er es dann doch schaffte, klang seine Stimme gar nicht wie seine eigene. Sie war zu rau, zu aufgewühlt. Verriet zu viel über die Gefühle in ihm. »Siz napıyorsunuz burda? [Was macht ihr hier?]«
Die junge Frau kräuselte kritisch ihre Augenbrauen. Dann ging ihr Temperament mit ihr durch. Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte Azad wütend an. »Sen bizimle alay mı geçiyorsun? [Nimmst du uns auf den Arm?]«
»Afra, kızım, yapma [Afra, meine Tochter, mach das nicht]«, griff die ältere Frau ein. Sie hielt ihre Tochter am Arm fest, um sie zu beruhigen. Azad biss die Zähne zusammen. Sein Kiefermuskel zuckte und verriet seine Wut. »Niye geldiniz buraya? Beni nasıl buldunuz? [Warum seid ihr hierher gekommen? Wie habt ihr mich gefunden?]«
»Oğlumu görmeye geldim [Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu sehen]«, flüsterte die Frau erstickt. Sie legte sich eine Hand auf die Brust. Ihre Zerbrechlichkeit stach Azad nur allzu deutlich ins Gesicht. Ein tiefer, stechender Schmerz machte sich in seiner Brustgegend breit. Das hier hätte niemals passieren dürfen. Niemals. Sie hätten niemals kommen dürfen. Vollkommen gestresst und unter Druck gesetzt, meinte er: »Gidin buradan. Ve bir daha geri gelmeyin. [Geht weg von hier. Und kommt nie wieder zurück.]«
Jetzt schluchzte die ältere Frau auf. Sie presste sich eine Hand auf den Mund. Azad fluchte ungehalten. Afra, die Jüngere von beiden, sah ihn durchdringend an. »Du fluchst bereits wie einer von denen.« Missbilligend verzog sie ihren Mund. Mit denen meinte Afra wahrscheinlich die ganzen Nicht-Türken in diesem Land. Aber sie konnte ja auch nicht wissen, dass Azad selbst kaum noch ein Türke war, oder? Verkniffen lächelte Azad. Trotz allem war er irgendwo erfreut darüber sie zu sehen. »Ihr hättet nicht herkommen sollen. Das meine ich ernst. Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht? Dachtet ihr, ihr könnt hier einfach so auftauchen und es würde alles wieder gut werden? Ihr hättet mich vergessen sollen, dann wärt ihr besser dran gewesen.«
»Dich vergessen?!«, rief sie empört aus. Ihre schönen blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Biz seni nasıl unutalım, Anıl? Seni nasıl bırakalım? Seni neden kaybettiğimizi bile bilemezken biz seni unutup yeni bir hayata mı başlasaydık? [Wie sollen wir dich vergessen, Anıl? Wie sollen wir dich loslassen? Während wir nicht einmal wissen, warum wir dich verloren haben, hätten wir ein neues Leben anfangen sollen?]«
Die ältere Frau sammelte sich etwas. Jetzt wirkte sie irgendwie ruhig. Azad bemerkte die tiefen Furchen um ihre Augen herum und die hängenden Mundwinkel, als sei sie es nicht mehr gewohnt, zu lachen. Drei Jahre mit dem Verlust ihres Sohnes hatten ihren Tribut gefordert. »Anıl, oğlum [Anıl, mein Sohn]«, fing sie jetzt an. Sie streckte zaghaft eine Hand nach seinem Gesicht aus, mit einem hoffnungsvollen Schimmer in ihrem Gesicht. Dann ließ sie die Hand wieder fallen als hätte sie plötzlich Angst gekriegt, er würde sie ihr wegschlagen. Es tat weh. Es tat so verdammt weh! Er hatte nicht gedacht, sie jemals wieder zu sehen. »Annem [Meine Mutter]«, flüsterte er leise. Ganz leise, aber mit brennender Sehnsucht in seinem Herzen. Mit einem Stechen und einer grenzenlosen Liebe. Er flehte sie mit seinem Blick an. »Ağlama, anne. [Weine nicht, Mutter.]«
Sie machte einen Satz nach vorne und umarmte ihn plötzlich. »Seni buldum, Anıl. Oğlumu buldum. [Ich habe dich gefunden, Anıl. Ich habe meinen Sohn gefunden.]«
Der Mann, der fast sein ganzes Leben lang Anil genannt worden war, war starr geworden. Es dauerte nur einige Sekunden, dann gab sein Körper nach. Sein Verstand schrie, dass er auf Abstand bleiben solle, dass er sich kalt und abweisend verhalten müsse, aber er konnte nicht anders. Der Geruch seiner Mutter kitzelte in seiner Nase, als er sich etwas nach unten beugte, um seine Arme um ihren schluchzenden Körper zu legen. Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht. Afra sagte nichts mehr, aber auch ihrem Gesicht war tiefe Rührung abzulesen. Azad grunzte. Er brauchte nur einige Momente, nur eine Umarmung, sagte er sich selbst. Nur diesen einen Moment nach so langen Jahren, dann würde er sich wieder von ihnen trennen. Er log sich selbst an, aber was blieb ihm anderes übrig?
Nachdem sich seine Mutter wieder gelöst hatte, riss er sich zusammen. Sie wischte sich lächelnd die Tränen aus dem Gesicht. Azad seufzte. Das intensive Pochen in seinen Schläfen setzte ihm langsam aber sicher zu. Er ließ seine Augen wieder um die Menge schweifen. Es war jetzt leerer als am Anfang. Azad hob die rechte Hand, kniff sich kurz in die Nasenwurzel und strich sich dann durch die Haare. Das Licht fing sich in seinem glänzenden Ehering und die Blicke der beiden Frauen wurden von ihm eingefangen. Zuerst realisierte er nicht genau, warum seine Mutter plötzlich erstarrte und ein beklommener Ausdruck in ihrem Gesicht Platz nahm oder warum die andere Frau, die jünger war als er selbst, einen komischen Laut von sich gab. Er ließ verwirrt seine Hand sinken und erst dann bemerkte er, dass es der Ring war, der sie so fesselte.
»Sen...[Du...]«, begann seine Mutter zögerlich und schaute ihm in die blauen Augen, »evlisin, oğlum. [bist verheiratet, mein Sohn.]«
Das sanfte Lächeln auf Azads Gesicht war eine automatische Reaktion als er an Rüya dachte. An seine wunderschöne, süße Frau mit den wilden, schwarzen Locken. Beide Frauen registrierten es. Azad bejahte mit fester Stimme, aber trotzdem lächelnd. Dann kam ihm wieder in den Sinn, dass er eigentlich vorhatte mit Rüya zu reden. Dass er das sogar musste. Dass er ihr hatte erklären wollen, was das alles bedeutete. Er drehte sich um, um nachzusehen, ob sie noch auf der Bank saß, aber in dem Moment wurde er sich Selins gewahr, die zu ihm gekommen war. Ihre blonden Locken bauschten sich um ihr ernstes Kindergesicht. Sie stellte sich zu ihm und griff nach seiner Hand. »Azad abi«, sagte sie. »Ich dachte, du kommst heute nicht.«
»Hey, kleine Prinzessin«, begrüßte Azad das kleine Mädchen. Doch sie runzelte bloß besorgt die Stirn. Seine Mutter und Afra starrten beide Selin an. Verunsichert krallte sich die Kleine fester an seine Hand und ging näher zu ihm. Sie schaute von den beiden zu ihm hoch. »Wer sind das?«, flüsterte sie leise. Er überging seine Frage und runzelte die Stirn als er Rüya nicht entdecken konnte. »Selin, wo ist deine Schwester, Schatz?«
Das kleine Mädchen reckte ihren Kinn in die Höhe. Traurig schaute sie ihn mit zusammengepressten Lippen an. Sie schüttelte ihren Kopf. Dann zuckte sie mit den Schultern. Azads rechte Augenbraue hob sich fragend. »Du weißt es nicht?«
»Ich weiß es«, widersprach sie zögerlich. Azad fragte: »Du sagst es mir nicht?«
Das Kind nickte traurig. Sie schielte zu ihm. »Ich sollte nicht hier sein.«
»Selin«, grollte Azad verwirrt. Er hatte plötzlich Angst, sie könne sich von ihm losreißen und verschwinden. Unerreichbar werden, ihn verlassen. »Warum solltest du nicht hier sein, Prinzessin?« Er bemühte sich wirklich, verständnisvoll zu wirken. Lächelte beruhigend und vertrauensvoll.
»Weil du meiner Schwester weh getan hast«, flüsterte sie leise. Das kleine Mädchen wirkte so niedergeschlagen. Sie ließ ihre Hand aus Azads gleiten, machte Platz für all die Enttäuschung, die sie empfand. Unwillkürlich musste Azad das Gesicht verziehen. Er hatte nicht nur Rüya verletzt, sondern auch Selin. »Hey, Prinzessin, das kriegen wir wieder hin, ich verspreche es.« Er lächelte, als sie eine Strähne um ihren Finger wickelte. Hoffnungsvoll sah sie ihn an. »Geht das denn?«
Er zuckte mit den Schultern. »Wir werden dafür sorgen, dass es gehen wird.«
Er musste, dachte er sich. Wie sollte er ohne seinen Traum leben?


15. Oktober 2018

Um euch weiterhin zu schockieren: Ein neuer Teil für euch! :D
(Niemanden scheint aufgefallen zu sein, dass ich das updaten vergessen habe...also, pshhht, soll auch niemand erfahren.)😂🌸

Das passiert, wenn euer Leben zu stressig ist: Ihr vergesst alles und niemand erinnert euch daran xD

Ich freue mich von euch zu hören.
P.S.: Hat jemand Buchempfehlungen für mich? :/

Mit all der Liebe
yazgoenluem

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt