Fünfundzwanzig

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R Ü Y A


»Anne?« Sie kam auf sie zu, um sie zu umarmen. Ein breites, strahlendes Lächeln war auf ihren Lippen zu sehen. Sie war so wunderschön. Ihre Mutter. Stolz erfüllte ihre Brust, dann legte ihr Vater einen Arm um die Schultern ihrer Mutter. Er flüsterte ihr etwas zu, lächelnd. Doch dann, plötzlich - runzelte ihre Mutter die Stirn, das Lächeln fiel ihr ab. Missbilligung ersetzte die Freude in ihren Augen. Ihr Vater schaute ernst und verärgert.
»Rüya?« Sie drehte sich um und erblickte ihre Schwester. »Abla!«
Doch auch ihre Schwester kam nicht näher, sondern schaute sie genauso an wie ihre Eltern. »Wie konntest du nur, Rüya?«
Verwirrt erwiderte sie: »Was denn? Was meinst du?«
»Wir haben auf dich gezählt, Rüya«, warf jetzt ihre Mutter ein. »Wir haben auf dich gewartet. Dir vertraut.«
»Genau, Rüya. Und Selin, Selin haben wir dir anvertraut!«, rief ihre Schwester.
»Warum tust du uns das an?« Die Stimme ihrer Mutter brach. Enttäuschung. Ärger.
»Genug jetzt!«, sprach ihr Vater das Machtwort. Er trat einen Schritt auf Rüya zu. »Du hast versprochen uns nicht alleine zu lassen.« Seine Stimme hob sich. »Du lässt los, Rüya! Wie kannst du es nur wagen? Ich bin dein Vater und du hast mir zu gehorchen! Und noch hast du den Mut, dich meine Tochter zu nennen?«
»Du solltest dich schämen, Rüya.«
»Wie konntest du nur, Rüya?«
Verzweifelt blickte sie hin und her. Tränen schürten ihr den Hals zu. Der Himmel fiel zu Boden, der Boden zum Himmel. Und dann verdichtete Rauch ihre Lungen.
Sie hustete und hustete und hustete, während die Stimmen der Toten immer weiter anstiegen. »Hört auf!«, schrie Rüya, »Hört auf!«
Keuchend fuhr Rüya nach oben. Hustend und nach Atem ringend. Die ersten Momente realisierte sie nicht, dass es kein Rauch war, weshalb sie keine Luft mehr bekam. Tastend griff sie nach dem Atemspray, um dann daraus zu inhalieren. Schon nach einigen Minuten beruhigte sie sich langsam wieder. Doch selbst Stunden später, die sie nur noch wach im Bett verbringen konnte, hatte sie das Grauen fest im Griff. Die Wörter der Toten wie ein Ohrwurm im Kopf.
Seufzend schlug sie die Decke zurück. Die Uhr sagte etwas gegen fünf. Sie würde jetzt nicht mehr einschlafen können.

 »Guten Morgen, Sonnenschein«, trällerte ihr Verlobter fröhlich als sie ins Auto stieg

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»Guten Morgen, Sonnenschein«, trällerte ihr Verlobter fröhlich als sie ins Auto stieg. Rüya grummelte bloß etwas, das sie selbst kaum identifizieren konnte. Sie krallte ihre Hände fest in ihren Schal und schaute aus dem Fenster. Möglichst nicht auf den Ring in ihrem Schoß. Und zu ihrem Verlobten, der überaus gute Laune zu haben schien. Als sie gestern aus der Moschee gekommen waren, hatte Azad ihr von seinem Gespräch mit dem Imam, dem Gebetsführer, berichtet. Er hatte zugestimmt uns beide demnächst zu verheiraten.
Azad piff leise vor sich hin und schielte ab und zu zu Rüya. Sie sah ihn nicht an. Er sagte nichts. Sie hatten einiges zu regeln, um die Hochzeit vorzubereiten. Sie mussten noch ihre Heirat anmelden, Rüyas Pass musste erneuert werden. Danach würden sie Selin abholen und Rüya würde gemeinsam mit ihr zum Brautgeschäft gehen. Mit einem Mal war sie unerträglich müde und nervös. Kriegte sie kalte Füße? Sollte das nicht eigentlich der Mann sein, der anfing an der anstehenden Heirat zu zweifeln?
Etwas später stiegen sie aus und Rüya steckte sofort die Hände in die Jackentaschen, um sie vor der Kälte zu schützen. »Setz deine Kapuze auf«, ordnete Azad an. Rüya schaute zu seiner hochgewachsenen Gestalt, die auf sie zukam und dann neben ihr weiterlief. »Meine Haare mögen meine Kapuze nicht.«
Azad zog eine Augenbraue hoch. »Dann haben deine Haare gelitten.«
Rüya beachtete ihn nicht weiter, doch er zog ihr kurzerhand die Kapuze über den Kopf. »Hey!«
»Pech gehabt.« Er grinste und sie betraten das alte Gebäude.
Als sie ihre Haare wieder vom Zwang der Kapuze befreien wollte, verfingen sich einige Strähnen ihrer Haare in ihrem Ring. »Au!«, murmelte Rüya beklommen und starrte danach auf ihren Ringfinger. Azad seufzte. »Was ist los, Rüya?«
»Nichts«, nuschelte sie. »Ich setze mich hin, hol du die Wartenummer.«
Ohne Azad eine andere Wahl zu geben marschierte sie zu den Bänken und nahm Platz. Sie starrte auf ihre abgetragenen Schuhe. Alte, markenlose Turnschuhe. Bis seine direkt vor ihren anhielten. Sie hob den Blick. Linste unter schweren Wimpern zu ihm empor. Ihr Herz wurde ihr eng. Seine Gesichtszüge waren majestätisch, kantig. Das Licht blendete sie und sie musste mehrmals verkniffen blinzeln, um seinem ruhigen, musterndem Blick standzuhalten. Wären da nicht seine Augen gewesen, die ihn verrieten, hätte sie ihm die Regungslosigkeit abgekauft. Aber sie funkelten schelmisch und irgendwo auch mit einer seltsamen Mischung aus Begierde und anderen Komponenten, die sie nicht zu entziffern vermochte.
Der Moment zog an ihnen vorbei. Er setzte sich auf den freien Platz neben ihr. Sie schielte zu ihm. Auf seine muskulösen Oberschenkel, die die Jeans ausspannten. Seine lässig in Schoß liegenden Arme. Der Mann neben ihr war ein Polizist. Der Mann neben ihr war ihr Verlobter. Sie senkte den Blick auf ihren Verlobungsring. Ihr Herz erwärmte sich. Er glitzerte im Licht. Wunderschön.
»Rüya«, murmelte er. »Rüya, Rüya, Rüya.«
Sie legte den Kopf schief. Keiner von beiden bemerkte den Blick der älteren Dame gegenüber, die entzückt zu lächeln anfing. Sie gingen auf in ihrer ganz eigenen Welt. »Erzähl mir, was passiert ist«, flüsterte Azad verschwörerisch. Sie seufzte müde. Schloss die Augen. »Du hast versprochen uns nicht alleine zu lassen.«
Wie lebte man mit der Last eines vorherigen Lebens? Sie atmete schwer. Erstickte an ihren Gedanken. An ihren Gefühlen. An ihren Erinnerungen. »Ich habe dir doch gesagt, dass es nichts ist«, zischte Rüya entnervt.
»Du hast mich bloß angelogen.«
»Lass das!« Er ließ nicht locker und bohrte weiter nach. »Was ist es, Rüya?«
»Ich sagte, du sollst mich in Ruhe lassen!« Sie merkte nicht, wie sie die Stimme hob. Ein paar Köpfe drehten sich zu dem streitenden Paar. »Einen Scheiß werde ich«, erwiderte Azad kühl. »Hast du Angst? Ist es das?«
»Sei endlich leise!« Rüyas Augen funkelten und zu ihrem entsetzen spürte sie Tränen aufsteigen. Sie schluckte hart und zwang sie mühsam zurück. Azad ließ einfach nicht locker. Der Polizist in ihm hatte eine Spur gewittert und biss sich verbittert und mit aller Kraft an den kleinen Knochen fest. »Warum blockst du mich ab, Rüya?« Er war sich der vielen Leute bewusst und auch, dass sie alle zuhörten. Aber er konnte nicht an sich halten. Er müsste wissen, was sie beunruhigte. »Weißt du was«, verkündete sie wütend, »du kannst mich mal!«
Sie sah so lächerlich süß aus, wenn sie sauer war, dass er fast lächeln musste. Aber nur fast. Wenn da nicht der ganze Ernst der Situation gewesen wäre. Würde sie jetzt, nachdem sie dabei waren einen Termin beim Standesamt zu vereinbaren, zur Vernunft gekommen und hatte realisiert, wie unsinnig es war, ihn zu heiraten? Nach der kurzen Zeitspanne, die sie sich erst kannten? Und ihrem jungen Alter? Anspannung grub sich in seine Muskeln. Rüya war die einzige, die er heiraten wollte. Und er war sich zu hundert Prozent sicher, dass er sie heiraten wollte. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der so unglaublich war wie sie. Wenn er mit ihr zusammen war, konnte er alles andere vergessen.
»Lass uns raus gehen«, meinte er und war schon dabei aufzustehen. Sie schüttelte stur den Kopf. »Rüya«, wies er sie angestrengt an. Es wurde ihr alles zu viel. Der böse Traum, die Stimmen ihrer Familie, die noch in ihrem Kopf herumgeisterten. Azad, der sie unter Druck setzte. Sie kriegte keine Luft und atmete schwer. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, raus zu gehen. Vor allem angesichts der vielen neugierigen Blicke. Wäre sie nicht so konzentriert darauf richtig zu atmen, wäre sie errötet. Azad streckte ihr die Hand hin, doch sie lehnte ab. Er seufzte genervt. Sollte er doch, dachte sie sich und unterdrückte die Tränen, während ihr die Luft immer knapper vorkam. »Du musst dich beruhigen, Rüya«, befahl Azad. »Versuch ruhig zu werden. Wo sind deine Medikamente?«
Sie hätte ihn am Liebsten geschlagen. Die alte Dame schüttelte ihren Kopf und fragte, ob alles okay sei. Azad sagte etwas, aber Rüya hörte schon gar nicht mehr zu. Sie war etwas wacklig auf den Beinen und musste sich festhalten. Tränen rollten über ihr Gesicht. Schließlich ließ sie doch zu, dass Azad ihr unter die Arme griff und sie stützte. Sie blieben vor dem Gebäude stehen. Unterdrückte Schluchzer erschütterten Rüyas schlanken Körper und sie wandte sich von Azad ab. Verstohlen wischte sie sich über die Augen, doch er ließ nicht zu, dass sie sich von ihm abwendete. »Rüya«, murmelte er. Er fühlte sich schuldig und wusste nicht, was er tun sollte. Sein Arm hob sich, als würde er sie an sich ziehen wollen, doch ließ ihn dann wieder sinken. Schweigen entstand zwischen ihnen, das nur durch ihre mühsamen Versuche wieder zu sich zu kommen unterbrochen wurde. Sie wünschte sich, er würde sie in seine Arme ziehen und gegen die Monster in ihrem Kopf kämpfen, so wie er gegen den Mann gekämpft hatte, der sie hatte töten wollen. Sie holte tief Atem. Aber das ging nicht, wurde ihr bewusst. Er konnte nicht ihre Kämpfe austragen; das war etwas, das sie selbst tun musste. Sie musste lernen ihre eigenen Kämpfe auszutragen. »Es tut mir leid«, schniefte sie nach einer Weile, obwohl es ihr unglaublich schwer fiel. »Es ist okay«, entgegnete er.
»Ich habe von meiner Familie geträumt.« Sie ballte die Hände zu Fäusten und zwang sich, weiterzusprechen. »Sie haben nach mir gerufen und...sie waren so enttäuscht von mir. Weil ich sie gehen ließ. Weil ich angefangen habe mein Leben zu leben ohne sie.«
Er wusste nicht, was er machen sollte. Nachdenklich reichte er ihr ein Taschentuch und versuchte dabei gehen die Hilflosigkeit anzukämpfen. Mit Mördern kannte er sich aus. Schlägern und Dieben. Leute, die anderen weh taten. Aber mit Toten? Wie bekämpfte man Tote in Träumen? Sie war so vernarrt in die Vergangenheit, so sehr hatte sie sich an die damaligen Geschehnisse festgeklammert. »Du darfst nicht in der Vergangenheit leben, sonst wird sie zu deiner Zukunft, Rüya.« Das war der einzige Rat, den er ihr geben konnte. Das Erschreckende daran war...dass er ihn sich zugleich selbst gab. Die Vergangenheit würde immer ein Teil ihrer beider Leben bleiben. Sie mussten nur lernen, sie endlich loszulassen, um eine Zukunft zu kreieren.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt