Dreißig

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A Z A D

Nach einer ziemlich anstrengenden Arbeitszeit legte er seine Waffe und seine Dienstmarke ab. Die Morgendämmerung war bereits angebrochen und tauchte alles in seinen rötlichen Licht. Stechend, warnend. Azad wollte nur noch nach Hause. Zu Rüya. Er freute sich sogar darauf. Und ein entspannendes Bad wollte er auch. Er ließ seinen verspannten Nacken kreisen, bis er knackte.
»Ew, Alter, das ist so eklig«, beschwerte sich Joshua. »Mach das nicht in meiner Nähe. Ekelpaket.«
Azad holte sein Handy heraus, wiederholte aber bewusst das Knacken und sah Joshua an. Dieser verzog das Gesicht. »Mistkerl.«
Dann zog er die Augenbrauen zusammen. »Deine Frau hat mich angerufen«, stellte er fest, den Blick auf sein Telefon gerichtet. Azad schaute schnell auf sein eigenes - und entdeckte die vielen Benachrichtigungen. Besorgt hörte er seine Mailbox ab. Ihre Stimme traf ihn völlig unvorbereitet. Die Angst und die Panik, die Hektik und die Atemlosigkeit. »Azadım [Mein Azad], wenn du das hörst, ruf mich bitte zurück. Ich glaube...ich glaube, wir werden beschattet. Da sind  diese Männer, also...ich weiß gerade nicht, was ich machen soll und ob sie uns wirklich folgen. Ich glaube, sie kommen nicht. Oh Gott, Azad ruf bitte zurück, ich-« Ihre Stimme brach abrupt ab. Dann kamen die Schreie. Rüyas und Selins Schreie. Sein Herz hörte auf zu schlagen. Das Blut gefror in seinen Adern.
»Scheiße, Mann, was ist los? Ich höre die Schreie bis hier her!« Joshua erblasste ebenso wie Azad. Er handelte schneller als Azad und war bereits dabei den Notruf an seine Kollegen weiterzugeben.
Azad hätte schwören können, dass man ihm sein Herz rausriss, als er die albtraumhaften Schreie und Hilferufe der Personen hörte, die ihm auf dieser Welt am meisten etwas bedeuteten. Aber zu Eis wurde er erst, als er die andere Stimme hörte. Sie war umschmeichelnd und zivilisiert, aber unglaublich kalt. »Ziemlich süß, die kleine Familie, die du hier hast, Azad Kaya. Natürlich darfst du sie wiederhaben, wir leihen sie uns nur aus. Du weißt, was wir wollen. Gib es uns.«
Fluchend schleuderte er in einem Anflug unsagbarer Wut alles von seinem Schreibtisch. Wie konnte das wahr sein? Nur vage realisierte er die verschiedenen Hände, die ihn festhielten.
»Verschwinde, Cara«, drang Joshuas Stimme wie aus weiter Ferne zu ihm. Einige seiner Kollegen waren aufgesprungen und hielten ihn jetzt fest. Heftig wehrte er sich gegen ihre bändigenden Griffe und riss sich gewaltsam von ihnen los. Wild fluchend ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Das durfte nicht wahr sein! Wenn Lügen zerbrechen konnten, dann würde diese jetzt schellend zu Boden gehen. »Allah'ım [Mein Gott], mach dass das nicht wahr ist!«, murmelte er. Dann stieß er ein ungläubiges Lachen aus.
»Cara, ich meine es ernst, ich will dich hier nicht haben! Er ist zu gefährlich im Moment.« Caras Erwiderung kriegte er nicht mehr mit. Seine Augen schauten leer in die Luft. Sie fokussierten nicht, dafür rasten zu viele Gedanken durch seinen Kopf hindurch. Er war so außer sich, dass er nicht einmal bemerkte, wie der Captain zu ihnen kam. »Reißen Sie sich zusammen, Kaya«, dröhnte seine tiefe Stimme direkt neben ihm. Hart presste er die Faust auf Azads Schreibtisch. »Sammeln Sie sich wieder. Und zwar schleunigst. Sie sind Polizist. Sie wissen ganz genau, dass diese Gefühle hier keinen Platz haben. Wenn Sie Ihren Mädchen da jetzt helfen wollen, dann reißen Sie sich verdammt nochmal auf der Stelle zusammen!«
Mit erstarrten Gefühlen stand er auf. In ihm herrschte nur noch eine große Leere, die er bereits einmal erlebt hatte. Einmal vor so langer Zeit. Der Boss zeigte auf sein Büro und Azad folgte ihm. Als die Tür sich hinter ihnen schloss und den Rest der Welt draußen aussperrte, fiel sein Boss bereits ein: »Was wollen Sie von Ihnen, Kaya?«
»Etwas, das ich Ihnen niemals geben kann. Etwas, das heute wahrscheinlich nicht einmal mehr existiert. Zumindest offiziell.«
Eine gehobene Augenbraue war die Antwort. »Hat das etwas mit Ihrem früheren Leben zu tun?«
Azad war nicht einmal besonders überrascht, dass sein Boss richtig lag. Er war nicht umsonst der Boss.
»Das sieht nicht gut aus. Ein Team ist bereits dabei alle möglichen Aufnahmen zu beschaffen. Jetzt liegt es an Ihnen: Nur Sie können uns sagen, wer diese Typen sind. Und nur Sie können die Entscheidung treffen, inwiefern Sie diese alte Sache wieder in ihr Leben lassen. Aber egal, was sie schlussendlich tun: Wir stehen hinter Ihnen.«

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