Fünfzehn

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R Ü Y A



Wenn ein Mann sich um sie kümmerte, dann war das eine Sache, dachte Rüya. Wenn er sich aber gleichzeitig auch noch um ihre kleine Schwester sorgte, dann hob es die ganze Situation in ein ganz anderes Niveau. Rüya wagte nicht näher in den Raum hineinzugehen, als bis zum Türrahmen. Wobei sie dabei nicht einmal vollständig im Raum stand. Sie konnte beobachten wie Azad mit Selin Barbei spielte - und das schon seit einer Stunde. Anfangs schien er wirklich keinen besonderen Spaß dabei gehabt zu haben ein Mädchenspiel zu spielen, doch nun schien er tatsächlich seine Freude dabei zu haben. Selins ständiges Kichern und ihre freudigen Ausrufe schienen ihnen ebenfalls zu amüsieren. Wo könnte sie jemals einen Mann finden, der ihre kleine Schwester so behandelte als sei sie sein Augenstein? Dabei war Selin Rüyas Ein und Alles, ihre Hoffnung und der Grund, weshalb sie so lebte, wie sie es tat. Weshalb sie ständig arbeitete und sich durch das Leben quälte. Als sie Azad zum ersten Mal begegnet war, hätte sie niemals ahnen können, - ja, nicht einmal träumen können -, dass ihre kleine Schwester diesem Mann wichtig werden könnte. Aber wenn sie daran dachte, was er alles für sie tat, wie er sie anlächelte und sie ständig zum Lachen brachte, wie er zu ihr eilte, wenn er glaubte, dass sie seine Hilfe brauchen würde, sprach das alles eine ganz andere Sprache.
Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte. Die Bindung zwischen ihnen schien immer stärker zu werden. Da war etwas zwischen Azad und Rüya, das sich nicht verleugnen ließ. Bewunderung? Dankbarkeit? Das Bedürfnis zu helfen? Alles nur nebensächlich, selbst wenn Rüya das gerne glauben mochte. Doch sie war schon immer eine Person gewesen, die ihre Augen lieber vor dem verschloss, dass ihr nicht sicher erschien. So drastisch war es erst nach dem Tod ihrer Eltern geworden, als sie Sicherheit und Beständigkeit am meisten gebraucht hatte. Sie hatte es nicht gefunden. In den dunkelsten Zeiten des Lebens und in so einem jungen Alter mit so einer großen Verantwortung und einem Schmerz zurückgelassen worden zu sein, hatte seine Spuren hinterlassen. War es ihr schlecht zuzuschreiben, dass Sie Azads Hilfsbereitschaft nicht annehmen wollte? War die Angst, sich zu sehr auf ihn zu verlassen und dann wieder alleine gelassen zu werden, unberechtigt?
Er war ein großartiger Mann, wurde ihr bewusst. Er war edel, gut und hilfreich. Fast so, wie Goethe den Menschen in seinem Gedicht zu sein aufforderte. Nur viel besser für sie, denn er brachte gleichzeitig ihr Herz zum Singen, wie es noch zuvor gesungen hatte. Töne wurden gespielt, wenn sie ihn sah, und wenn er sie anguckte, dann war es als würde die schönste Melodie, die sie spielen konnte, gespielt werden. Er hob den Blick, ein Augenblick, eine Reflexion der Zeitlosigkeit. Er hob den Blick, sah nach hinten, wo er unerwartet ihrem Blick begegnete - mit einem Grinsen im ganzen Gesicht, das Zeuge der Freude war, die er empfand. Ihr war nicht einmal aufgefallen, dass sie schon eine ganze Weile reglos dastand und ihn grüblerisch anstarrte. Sein Gesichtsausdruck wechselte zu fragend, als sie immer noch keine Anstalten machte, wegzuschauen. Die Zeit zog vorbei. Oder sie stand still, wer könnte das schon so recht sagen. Sein attraktives Gesicht stahl ihr den Atem. Scharfe Kanten, stark ausgeprägte Wangenknochen. Stechend blaue Augen und gerade Augenbrauen. Selbst in dem Shirt, das er anhatte, konnte man sehen, dass sein Körper für die polizeiliche Arbeit in Form gebracht war. Er sah durch und durch wie ein Mann aus, der nicht vor Arbeit scheute. Aber auch er wurde von etwas gejagt, dass seine Augen zu verschlossen und wachsam, seinen Blick zu umherstreifend und kalkulierend gemacht hatte. In der Tat, er konnte das sehr gut verschleiern, aber gleiche Seelen erkennen sich. Selin war es, die den Moment aus seinem Bann entließ. Doch Azad wartete immer noch fragend und wollte sich nicht Selin zuwenden, solange sie keine Anstalten machte, ihm zu sagen, was er wissen wollte. Also war sie diejenige, die sich zittrig und aufgewühlt umdrehte. Sie lief davon, ja, aber war sie schwach, weil sie sich nicht jetzt in dem Moment damit beschäftigen wollte, was das alles zu tun hatte?
Verwirrt betrat sie die gegenüberliegende Küche und mit der Hoffnung, Zerstreuung finden zu können, fing sie an, das Geschirr zu spülen. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie zur Arbeit musste. Das Wissen war befreiend, schließlich konnte sie jetzt wieder frei sein in ihrer Entscheidung, ob sie arbeiten wollte und gleichzeitig würde sie auch wieder ein Stück des Kontrolle über ihr Leben zurückerlangen, dass sie verloren hatte, als dieser Kriminelle auf sie geschossen hatte. Als er versucht hatte, sie umzubringen. Die Mechanik des Geschirrspülens war auf seine Art beruhigend und schaffte es, sie zumindest für eine kurze Weile abzulenken.
Sie wollte nicht über den Tod nachdenken, der ihre Familie verfolgte wie ein Fluch. Auch nicht über Azad und eine mögliche Zukunft mit ihm. Eigentlich wollte sie gar nicht mehr über die Zukunft nachdenken, die sie nicht mehr hatte oder nie haben würde.
Trotzdem konnte sie nicht leugnen, dass es da diesen Mann gab, der in ihr den Wunsch weckte, an eine denken zu wollen. Dabei wusste sie doch, wie dumm das war. Konnte sie ihm trauen? Zu war würde sich das, was zwischen ihnen so deutlich zu spüren war, entwickeln? Zweifellos zu etwas Riesigem und Explosivem. Ohne Sicherheit, ohne nichts. Wenn er nicht schon bald aus ihrem Leben verschwand, würde sie am Ende noch zerstörter sein, als sie es war.
Das Leben konnte doch echt grausam sein, aber nichts anderes war sie gewohnt...
»Rüya.«
Mit einem erschrockenem Schrei wirbelte Rüya herum. Ihre Hände flogen nach oben, das schaumige Wasser verspritzte in alle Himmelsrichtungen. Azad grinste sie verschlagen an, als er den Schaum beobachtete, der auf ihrer Nase gelandet war. Allein dieses Grinsen sorgte für Atemprobleme bei Rüya. »Sorry, wollte dich nicht erschrecken.« Mit einer geöffneten Wasserflasche lehnte sich Azad an den Tresen, wobei er seine Knöchel ebenfalls verschränkte. Rüya zog ein finsteres Gesicht und wischte sich mit dem Arm übers Gesicht, wobei sie ihre Nase kraus zog. »Das behauptest du.«
Er nahm einen Schluck, während er sie keine einzige Sekunde aus den Augen ließ. Nicht, dass sie darauf achten würde...wer's glaubte! Sie achtete sehr wohl darauf, mehr als ihr lieb war. Dabei fiel ihr natürlich auf, dass sein Blick ungewöhnlich lange auf ihr verweilte. »Was ist da vorhin passiert?«, sprach er nach einer Weile endlich. Leise und irgendwie beruhigend.
»Nichts.« Nonchalant zuckte sie mit den Schultern, heuchelte Unwissen und Unverständnis. Vielsagend zog er seine Augenbraue hoch. Rüya seufzte gereizt. »Das geht dich nichts an!«
Für einen Moment holte er tief Luft, ehe er die Flasche zur Seite stellte und sich aufrichtete. »Na gut, wenn du nicht willst, dann dränge ich dich auch nicht.«
Er lächelte trotzdem und am Liebsten würde sie dieses Lächeln bis in alle Ewigkeiten aufbewahren. Sie verstand, dass das Lächeln bloß von seinen ernsten und abgestumpften Augen ablenken sollte, trotzdem konnte sie nicht verleugnen, wie schön er war, wenn er lächelte. Oder grinste. Oder lachte. Oder ernst dreinschaute. Oder mit diesen vor Sorge und Ernsthaftigkeit zusammengezogenen Augenbrauen...oh, Mann, sie musste echt aufhören damit!
»Deine Schwester lacht und ist fröhlich-warum du nicht?«
»Es ist so offensichtlich und albern, was du gerade versuchst.« Sie versuchte streng zu blicken. Überheblich und arrogant. Lachend fragte er: »Das hast du mir schon mal gesagt - damals, auf dem Friedhof. Ich muss wohl an meinen Taktiken feilen, was?«
»Solltest du unbedingt. Eigentlich habe ich mehr erwartet von einem ausgebildeten Polizisten.«
»Kommt darauf an, in welcher Hinsicht mehr du erwartest, Süße.«
»Hör auf mit diesen albernen Flirtversuchen!«, stieß sie entrüstet hervor - und irgendwie auch amüsiert. Jeder andere Mann würde albern und bescheuert dabei wirken. Er war ein ernster Mann, man sah es in seinen Augen. Sein Temperament schlug manchmal aus ihm hervor und dann umgab ihn die gefährliche Ernsthaftigkeit. Alles andere, all die Verspieltheit und die Flirtversuche waren bloß Fassade. Er war mehr als ein lachendes Gesicht, viel mehr.
»Rüya«, meinte er mit dieser verspielten Stimme, »wir wissen doch, wie das alles enden wird, da kann ich auch gleich noch versuchen, dich zum Lachen zu bringen.«
Sie schloss die Augen und bat Allah um Hilfe. Wenn sie nur die Augen schloss, würde er verschwinden und mit ihm die ganzen Andeutungen die er machte. »Lache ich?«
»Nein, aber du willst eigentlich ganz tief in deinem Innern lachen, weil ich so ein toller Typ bin.« Er hielt bedächtig inne. »Meint zumindest deine Schwester.«
Jetzt lachte sie doch, auch wenn sie nicht wollte. »Verschwinde! Geh zu Selin, dann kann sie dein Ego weiterhin nähern.«
Er grinste schief, nahm noch einige tiefe Schlücke aus der Wasserflasche ehe er ihr zuzwinkerte und sie alleine ließ. Das Seufzen, das über Rüyas Lippen kam, war nicht aufzuhalten und drückte alles aus - Sehnsucht, Müdigkeit, Hoffnung, Angst und noch vieles mehr.

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