Siebenunddreißig

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A Z A D


»Hey.«
Nico nickte Azad zu, eine halb abgebrannte Zigarette im Mundwinkel. Dicke Regentropfen fielen vom Himmel und landeten auf der Erde. Sie hatten keine Ahnung, dass der Ort, an den sie kamen, grausam und verstörend war. Dass er Leid und Trauer mit sich brachte. Aber manchmal, dachte sich Azad, konnte auf diesem grauenvollen Ort auch etwas Wunderbares entstehen. Etwas wie die Liebe zwischen zwei Menschen, die sich in ihren dunkelsten Stunden gefunden hatten. Dafür dankte er Allah aus tiefstem Herzen. Er wusste nicht, was er ohne Rüya gemacht hätte. Oder ohne Selin.
Nico bot ihm eine Zigarette an, doch Azad lehnte ab. »Das war nie so wirklich mein Ding«, erklärte er. Nicolas verstand. Auch ohne eine Erklärung. Beide Männer standen schweigsam unter dem Vordach des Raucherbereichs im Garten des Krankenhauses. »Wie macht sie sich?«, fragte Nico ohne Azad anzuschauen.  »Ziemlich gut«, antwortete er. »Den Umständen entsprechend. Sie war dehydriert und hat sehr lange geschlafen. Außerdem ist ihre Kehle immer noch wund und ab und zu bekommt sie noch Atemnot, aber ich denke, es wird jetzt endlich besser. Der Arzt meinte, sie würden sie noch einige Tage zur Beobachtung hier behalten, dann dürfe sie nach Hause.«
Nico nickte. »Sie ist ein gutes Mädchen. Verlier sie bloß nicht.«
Natürlich musste Azad bei diesen steifen Worten Grinsen. »Ich habe Glück, was?«
»Treib's nicht zu weit«, grummelte der furchteinflößende Typ. Der Regen nahm weiter zu und prasselte immer heftiger zu Boden. Azad genoss das Gefühl der Kühle, das der Regen mit sich brachte. »Ich muss dir danken«, meinte er dann plötzlich. Ausgesprochen waren die Worte nicht mehr zurückzunehmen und symbolisierten den Übertritt einer Grenze zwischen ihnen. Mit den Fingern fuhr sich Azad durch die schwarzen Haare und stieß ein kleines Seufzen aus. »Also...danke, Mann. Ich stehe tief in deiner Schuld. Nicht nur, dass du meine Frau da rausgeholt hast, sondern auch für alles andere.«
Es gab so vieles, was er meinte. Nico hatte eine so wichtige Rolle in Azads Leben gespielt, nachdem er sein altes vor drei Jahren hinter sich gelassen hatte. Er hatte so viel für ihn getan. Doch Nicolas zuckte bloß gleichgültig mit den Schultern und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, ehe er sie austrat und wegschmiss. Dann schaute er Azad in die Augen. »Man tut, was man tun muss, Azad Kaya. Ich habe bloß meinen Job gemacht. Tatsächlich«, seufzte Nico, »hätte ich ihn sogar besser machen müssen. Es gab eine Lücke in der Kette. Ich hätte das ahnen müssen. Nur so haben die dich finden können, mein Freund. Sonst hat gar nichts auf dich hingedeutet. Aber keine Sorge«, beruhigte er Azad - oder doch eher sich selbst -, »ich bin an der Sache ran. Und ich werde verdammt nochmal keine Ruhe geben, wenn ich nicht herausfinde, wer dieser Dreckssack ist.«
Das Versprechen lag zwischen ihnen, aufgenommen von dem Prasseln des Regens. Der Ausdruck in Nicos Gesicht war düster und fest entschlossen. Azad zweifelte keine Sekunde daran, dass Nico tun würde, was er versprach.
»Es war nicht deine Schuld. Und auch nicht dein Job. Du hast getan, was du tun musstest.«
»Es wird sich jetzt alles ändern, das ist dir bewusst, oder?«, fragte Nico. »Man wird demnächst einen Gerichtstermin festmachen und du wirst aussagen müssen. Vielleicht solltest du deine Frau darauf vorbereiten. Manche Geheimnisse sind nicht dazu gemacht, lange geheim zu bleiben.«
Noch ein Seufzen seitens Azad. »Ich weiß. Damals hätte ich diese Wendung nicht einmal im Traum erahnt. Um ehrlich zu sein, habe ich ziemliche Angst davor. Ihr alles zu sagen.«
Erstaunt zog Nico seine Augenbraue hoch. »Sie liebt dich. Sie war ziemlich besorgt um dich und wollte nicht ohne dich gehen.«
»Sie ist so zerbrechlich«, flüsterte Azad leise. Es hatte immer noch nicht aufgehört zu regnen. Nico legte den Kopf schief. »Sie ist eine Kämpferin und gerade durch die Hölle gegangen. Sie wird auch um dich kämpfen und nochmal durch die Hölle gehen, wenn du am Ende stehst.«
»Oh, nein!« Joshuas laute Stimme lenkte die Aufmerksamkeit beider Männer auf sich. »Scheiße, ihr führt so ein Gespräch! Ein Mädchen-Gespräch! Verdammt, ich hätte einfach nicht kommen sollen!«
»Niemand hat dich eingeladen.« Azad verdrehte die Augen. Nico setzte bloß seine Kapuze auf. Joshua nickte ihm zu, machte dann aber einen Schmollmund in Azads Richtung. »Ein ›Hey, Joshi, ich liebe dich; danke für alles, was du für mich getan hast‹ hätte es auch getan, du Mistkerl.«
»Du klingst wie ein Mädchen, Adams.« Azad konnte sich die Stichelei einfach nicht verkneifen. »Außerdem hast du dich gerade ›Joshi‹ genannt?«
»Du nennst mich ein Mädchen? Wer führt hier bitte Frauengespräche über Gefühle und so'n Scheiß? Was macht ihr demnächst? Euch in Pyjamas die Haare flechten?«
»Eifersüchtig?«
Joshua lachte wiehernd. »Im Traum nicht.«
Nico sah zu Azad und zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch. »Ist der immer so?«
»Du hast ja keine Ahnung.«
»Ich bin toll, okay?«, prahlte Joshua. Nico ignorierte ihn. »Mein Beileid.«
Tatsächlich meinte er das nicht besonders ernst. Azad wusste, dass Joshua und Nico zusammengearbeitet hatten, um Rüya zu und ihn zu retten. Joshua hatte sich gleich nach Nico seiner Frau angenommen. Er hatte die beiden kurz nach der Festnahme im Krankenhaus entdeckt. Sie hatten sich recht gut verstanden und beide schienen sogar ziemlich gut miteinander auszukommen, auch wenn das schwer vorstellbar war angesichts der Tatsache, dass beide wie komplette Gegenteile wirkten. Nico war eher hartgesotten, wortkarg und einschüchternd, während Joshua wie der strahlende Surferboy von nebenan wirkte. Wobei er ja Australier war und wirklich surfen konnte.
Nico nickte Azad und Joshua zu. Er wollte jetzt gehen, nachdem er Azad gesagt hatte, was gesagt werden sollte und nachdem er jetzt wusste, wie es Rüya Kaya ging. »Merk dir, was ich gesagt habe. Sie werden sich schon demnächst bei dir melden«, ermahnte er Azad noch ein letztes Mal. Dieser nickte. Er nahm sich Nicos Worte wirklich zu Herzen, denn er wusste, wenn Nico etwas sagte, dann nicht ohne Grund.
»Komm mich bald mal wieder besuchen, ja? Nicht, dass du mich noch vermisst, jetzt wo du auf meinen Geschmack gestoßen bist.« Joshua grinste breit und zwinkerte Nico zu. Es hätte ehrlich komisch und einfach schräg wirken müssen, vielleicht sogar widerlich, aber Joshua hatte einfach eine Art an sich, die die Worte genauso locker und witzig wirken ließ, wie sie gemeint waren. Nico streckte ihm den Mittelfinger entgegen. »Ist da nicht eine Frau, um die du dich kümmern solltest, Adams?«
Joshuas Mine entrückte für einen Moment, ehe sein Grinsen noch strahlender wurde. Hätte Azad seinen Partner nicht so genau gekannt, wäre ihm auch nicht aufgefallen, dass dieses Grinsen bloß etwas Gewaltiges vertuschen sollte. Doch schon in der nächsten Sekunde zuckte er innerlich mit der Schulter. Wenn Joshua nichts sagen wollte, dann würde er das auch akzeptieren. Verdammt, er schuldete es ihm sogar!
Nicht einmal jetzt hatte Joshua gefragt, welche Art der Beziehung Azad und Nico miteinander pflegten. Dabei wäre es sogar sein gutes Recht gewesen, das zu erfahren. »Kein Grund eifersüchtig zu sein, mein Hübscher. Es ist genug von mir für alle da.« Joshua zwinkerte, Nico verzog das Gesicht und Azad war einfach glücklich, dass nicht er Opfer von Joshuas komischen Witzen war. Danach wurde Azad trotzdem Teil von Joshuas Aufmerksamkeit. »Wie geht's Rüya?«, fragte er teilnahmsvoll. Azad lächelte. »Den Umständen entsprechend. Sie ist auf dem Weg der Besserung.«
»Dem Himmel sei Dank!« Azads Partner streckte grinsend die Hände gen Himmel. »Cara wollte gerne kommen, aber ich konnte sie noch davon überreden, dem armen Mädchen ihre Ruhe zu geben.«
»Sie ist wirklich noch nicht bereit für zu viel Besuch. Aber vielleicht würde es ihr gut tun, die Tage von ihr zu hören.« Azad verzog leicht das Gesicht bei dem Gedanken an den unerwarteten Besucher von vor Kurzem. Obwohl er sich am Ende sogar sehr gut mit Erhan vertragen hatte und dieser ihm sympathisch erschien, war Azad trotzdem nicht allzu erfreut über sein Auftauchen zu diesem Zeitpunkt gewesen. Es war nervenaufreibend gewesen mit anzusehen, wie sehr seine Präsenz sie aufgewühlt hatte und Azad hasste es jedes Mal, wenn Rüya weinte. In letzter Zeit hatte sie zu viel geweint. Und auch zu viel durchgemacht. Wegen ihm. Schuldgefühle durchzuckten ihn. Nichtsdestotrotz konnte Azad abstreiten, dass er unglaublich stolz auf sie gewesen war. Dafür, dass sie sich so sehr verändert hatte. Mit sich selbst und mit der Vergangenheit viel eher im Klaren zu sein schien. Er hatte immer versucht Rüya dabei zu unterstützen, aber bei ihm selbst? Da sah die Sache schon ganz anders aus. Es gab viel, was er erklären musste und noch mehr, was er nie wirklich verarbeitet hatte. Azad hatte seiner Familie nicht ein einziges Mal hinterher geweint, hatte sich nie eingestanden, auch nur an sie zu denken. Es war ein ganz anderer Schmerz als Rüyas, aber doch so gleich. Beide hatten sie ihre Familien verloren. Auf andere Arten vielleicht, aber Verlust blieb Verlust. Jetzt, wo sein Leben geradewegs mit seinem alten zusammengestoßen und alles kollabiert war, wusste er nicht mehr weiter. Sein Blick hob sich zu den grauen Wolken. Er würde sich wohl aus den Trümmern des letzten Lebens einen neuen Weg schaffen müssen. Und hoffentlich würde Rüya ihm verzeihen und mit ihm gehen.
»So sehr ich deine Anwesenheit auch schätzen mag, warum bist du hier, Adams?«
Joshua verzog seine Mundwinkel. »Willst du damit andeuten, dass du nicht vor Freude ausflippst jetzt endlich wieder mit mir vereint zu sein, Kaya?«
Azad verdrehte die Augen, stieß Joshua gegen die Schulter, aber konnte trotzdem nichts gegen die Belustigung, die in ihm aufkam, unternehmen. »Du weißt, was ich meine, du Vollpfosten!«
»Dein liebevoller Umgang ist jedes Mal herzerweichend. Wie hält deine Frau das bloß jedes Mal aus?«
»Liebe kennt keine Beschwerde.«
Joshua würgte. »Mistkerl. Reicht dein Betrug dir nicht?«
»Adams, komm auf den Punkt.« Joshua lachte angesichts Azads mürrischen Tonfalls. Dann sah er seinem Freund und Partner in die Augen. »Ich schätze, du würdest dich jetzt auch mal gerne aufs Ohr hauen. Und da ich mir vorstellen kann, wie schwierig es sein muss, sie nach allem auch nur kurz alleine zu lassen, übernehme ich selbstlos die Rüya-Wache.« Er nickte soldatenhaft. »Gern geschehen, Partner.«



15. September 2018

„Wandelnder Traum" neigt sich ganz offiziell dem Ende zu - ich habe bereits alles geschrieben, es muss nur noch alles hochgeladen werden und natürlich ist da dann noch das Überarbeiten...

Es wird aber eine kleine Überraschung für euch geben, wenn alles endet!❤️😍🙊
Ich hoffe, sie wird euch gefallen.

Mit all der Liebe
Yazgoenluem❤️

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