Zweiunddreißig

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A Z A D



Unbeeindruckt betrachtete Azad das Auto mit den schwarz getönten Scheiben, das vor ihm stehen geblieben war. Er wartete nicht, bis er aufgefordert wurde, sondern riss die verdammte Tür auf und stieg ein. Eine Waffe begrüßte ihn. Und sein persönlicher Albtraum, der sich seine Vergangenheit nannte. Ein immer wiederkehrender schlimmer Traum, der sich nicht verhindern ließ. Es war schwer gewesen, als man Selin gefunden hatte. Übel zugerichtet, aber noch am Leben. Sie hatte sich an Azad geklammert und unentwegt nach ihrer Schwester geweint. Es war härter gewesen, sie in der Sicherheit von Necmiye Teyze und in der zu ihrem Schutz beauftragten Polizisten zu lassen, als er jemals geahnt hatte. Wehmut erfasste sein Herz. Vor drei Jahren hatte er nicht gedacht, dass er jemals wieder in der Lage sein würde, so eine tiefe Verbundenheit zu irgendjemanden zu empfinden.
»Lange nicht mehr gesehen«, meinte der Mann, den Azad so sehr hasste, als er die Tür hinter sich schloss. So zivilisiert und gepflegt. Eine Lüge. Es widerte Azad an. Kalt blickte er dem Scheißkerl ins Gesicht und rang mit sich, um ihn nicht gleich zu befallen. »Leider nicht lange genug.«
Der Mann lächelte amüsiert. Nicht, dass er es tatsächlich wäre. Er verstand sich nur sehr gut darin, eine Maske zu tragen. Aber auch Azad war geübt darin. Eine Maske. Tausend Lügen.
»Ich freue mich, Sie als meinen Gast willkommen zu heißen. Ich hoffe, sie werden nichts gegen die kurze Verzögerung haben, die unumgänglich ist. Sie wissen zwar, dass ihre schöne Frau nicht sehr lange überleben wird, wenn sie doch die Behörden eingeschaltet haben und versuchen uns auszutricksen, aber Vorsicht ist allemal besser als Nachsicht, nicht wahr, Herr Kaya?« Nichts als leere Worte. Azad hatte mit nichts anderem gerechnet. Er war sogar darauf vorbereitet gewesen. Ein Lakai, der ihm gegenüber saß und Azad ganz bewusst seine Waffe sehen ließ, reichte ihm eine kleine Pille mit einem Glas Wasser.
»Wenn Sie das bitte trinken würden«, forderte der Anzugmann ihn auf. »Es wird Sie innerhalb von wenigen Minuten ausknocken.«
Azad knirschte mit den Zähnen. Diese Bastarde. Dann nahm er mit gehobener Augenbraue die Tablette und schluckte sie.
Das war die Vereinbarung, die er getroffen hatte. Er wollte Rüya sehen, ihre Freiheit - und im Gegenzug würden sie ihn bekommen.

Als er wieder zu sich kam, hielt man ihm eine Waffe an den Kopf und zwängte ihn aus dem Wagen

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Als er wieder zu sich kam, hielt man ihm eine Waffe an den Kopf und zwängte ihn aus dem Wagen. Zuerst war er etwas benommen, doch das hinderte ihn nicht daran blitzschnell seine fünf Sinne zusammenzusammeln. Sie waren in einer verlassenen Dachgarage. Es war keiner da, der ihnen Gesellschaft leistete - außer den Personen auf der gegenüber liegenden Seite.
»Laufen Sie schon, mein Guter«, forderte ihn der Mann vermeintlich freundschaftlich auf. Fast hätte Azad ihm den Kopf abgerissen. Er mochte es gar nicht, keine Kontrolle über die Situation zu haben.
Azad registrierte die herrschende Abenddämmerung, die vielen bewaffneten Männer, die sie umgaben und auch die Kameras - die wahrscheinlich alle ausgeschaltet waren. Eine Autotür wurde zugeschlagen, dann wurde der hintere Teil eines Trucks geöffnet und - er glaubte es kaum - Rüya wurde herausgeführt. Der Atem entwich ihm bei ihrem Anblick. Fühlte es sich so an, unter Atemlosigkeit zu leiden?
Sie endlich wiederzusehen - lebend - nach all der Angst, die er ausgestanden hatte, und zu wissen, dass es nicht mehr lange dauerte bis sie wirklich in Sicherheit war, machte ihn ganz schwindelig vor Nervosität und Erleichterung zugleich. Ihre Hände waren verbunden und um den Mund trug sie ein Stoffstreifen. Rüya torkelte etwas, ihre Haare waren wirr und verfilzt, ihre Kleidung verdreckt und teilweise zerrissen. Bei ihrem Anblick flammte heiße, unbeherrschte Wut in ihm auf und seine Augen blitzten die Männer, die sie nach vorne schubsten, unheilvoll an. Der Tod wartete auf sie.
Benebelt hob sie den Kopf - und entdeckte ihn. Es war, als ob ein Stromschlag sie durchfuhr. Ihr ganzer Körper richtete sich vor Anspannung an, sie riss ihre veilchenblauen Augen auf. Ein Leuchten glimmte in ihnen auf. Panisch und hektisch, aber auch hoffnungsvoll und voller verzweifelter Liebe. Denn das war es und das erkannte Azad auch ganz klar. Er liebte Rüya und Rüya liebte ihn. Er würde alles für sie tun. Jeden Atemzug würde er für sie hergeben. Jedes Schlagen seiner Brust würde er ihr schenken. Alles, solange sie weiterleben konnte. Und wenn es sein musste, würde er auch sich selbst dem Teufel höchstpersönlich übergeben.
Einer der Männer hinter ihr schubste sie erneut nach vorne. Sie wehrte sich gegen die festen Griffe, die sie nicht einfach losließen, aber strebte ihm gleichzeitig entgegen. Im selben Moment spürte Azad wieder das kalte Metall an seinem Hinterkopf. Er ging ebenfalls auf Rüya zu. Sie hatte ihm so vieles ermöglicht. Hatte ihm seinen Traum wahr gemacht. Kurz voreinander wurden sie zum Stehen gebracht. Es trennte sie vielleicht gerade mal ein Meter.
»Rüya, meine Liebe«, fing der Mann an. »Sie haben unglaubliches Glück so einen treu ergebenen Ehemann zu haben. Er ist bereit sich selbst gegen dich zu einzutauschen.« Theatralisch fasste sich der ältere Mann an die Brust. »Verabschiedet euch voneinander. Aber vorher möchte ich noch einige Details in unserer Abmachung besprechen. Herr Kaya, Sie haben etwas, das von unfassbarem Wert für uns ist. Haben Sie es mitgebracht?«
Azad sah dem Mann ins Gesicht. »Ich habe es schon lange nicht mehr. Die Behörden haben es konfisziert. Aber ich weiß, wo genau es sich befindet.«
Ein düsterer Schatten huschte über das Gesicht des Mannes. »Das ist nicht, was ich wollte«, meinte er täuschend sanft. Der Mann war nicht auf den Kopf gefallen und Intelligenz ließ seine grauen Augen blitzen. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Sie werden uns besorgen, was Sie uns damals entwendet haben, Herr Kaya, und solange wird ihre liebliche Frau uns weiterhin Gesellschaft leisten müssen. Aber vorher werden Sie uns beweisen müssen, dass Sie uns in keine Falle führen...Vertrauen beweist man am Besten, wenn man Blut fließen lässt. Wussten Sie das? Es stärkt die Bindung, wenn man gewisse Opfer erbringt. Sie werden uns auch ein Opfer bringen müssen.«
Es war schwierig für Azad, die Wut im Griff zu behalten. Aber er riss sich zusammen. Für Rüya. Für Selin. Scheinbar unberührt hob Azad eine Augenbraue. »Warum stehen wir dann noch hier? Denkt ihr, ich werde kneifen? Dass ich Angst habe? Solange ihr euren Teil des Handels einhält und meine Familie in Ruhe lässt, werde ich auch meinen erfüllen.«
Der Mann lächelte. Herzlich. Schlangenhaft. »Ich sehe schon, wir verstehen uns. Danach haben Sie acht Stunden, um uns zurückzugeben, was uns gehört.«
»Azad«, keuchte Rüya plötzlich. Einer der Männer hatte ihren Mund freigelegt. Er schien seinen Griff zu festigen, weil Rüya ein schmerzerfülltes Keuchen ausstieß und leicht in die Knie ging. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerzen, ihre Brust hob sich angestrengt unter ihren hektischen Atemzügen. Sie sah ihm in die Augen. Verloren und gleichzeitig gefunden. Er wusste, dass er kalt wirkte. Er würdigte sie kaum eines Blickes, sah wieder den Mann an, der gebannt die Szene zwischen Mann und Frau beobachtete. Zeig keine Schwäche, Azad Kaya.
Wer bist du?
Azad Kaya.
Wer bist du?
Azad Kaya.
Wer bist du?
Azad Kaya.
Azad hob seine Augenbraue. Eine stumme, wortlose Provokation, die seine arrogante Überlegenheit selbst in einer der schlimmsten Situationen überhaupt demonstrierte. Seine Gefühllosigkeit und seine Härte. Trotzdem schwitzten seine Handflächen und seine Muskeln waren zum Zerreißen angespannt vor lauter Beherrschung, um nicht zu Rüya zu rennen, als sie ein kraftloses Schluchzen ausstieß. Er hatte sie noch nie so erlebt. Gebrochen und völlig aufgelöst. Sein Nacken brannte. Alles, was er wollte, war diese Wichser zu treten und sie dafür zu bestrafen, dass sie Hand an seine Frau gelegt hatten. An seinen Traum.
Der Anzugmann sah zu Rüyas Peinigern. »Lasst das arme Mädchen doch los. Herr Kaya hat uns sein Wort gegeben. Gönnen wir den beiden Turteltauben doch einen Moment für sich.«
Augenblicklich lockerte sich der Griff um Rüyas Arme. Keuchend fiel sie zu Boden als ihre Beine ihr den Dienst verweigerten. Wild hingen ihre gelockten Haare um ihr Gesicht hinunter. Er war unglaublich stolz auf sie, als sie sich so schnell wie möglich wieder aufrichtete. Anfangs waren ihre Schritte noch unsicher, als wäre sie sich nicht ganz sicher, ob das wirklich ernst gemeint war. Dann wurden sie entschlossener, auch wenn sie immer noch zittrig vor Anstrengung waren. Die letzten paar Schritte rannte sie fast schon in seine Arme und er fing sie sicher auf, bevor sie zu Boden fallen konnte. Somit gab er zwar seine zur Schau gestellte Ungerührtheit auf, aber das war es ihm Wert. Sie endlich in den Armen halten zu dürfen. Heiße Tränen rannten Rüya die Wange hinab, während sie sich fest an Azad presste. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, aber ihre Arme waren immer noch verbunden. Azad stützte sie mit einem starken Arm um ihre Taille, während er mit seiner anderen Hand an ihrem Hinterkopf ihr Gesicht in seine Halsbeuge presste. Rüya konnte nicht anders als heiser aufzuschluzen. Ihr zierlicher Körper erbebte, während er trotz allem bemerkte, wie schwer es ihr fiel, normal Atem zu holen. »Rüyam [Meine Rüya/Mein Traum]«, murmelte er und drückte sein Antlitz in ihre Löwenmähne. Tief holte er Luft und zog sie noch fester an seinen Körper. Sie zuckte kurz zusammen. Womöglich war sie verletzt und er hatte ihr weh getan. »Verdammt, Rüyam benim...acıttım mı? Neresi? [Meine Rüya...habe ich dir weh getan? Wo?]«, wisperte er mit trockener Kehle. Sie schüttelte den Kopf und konnte nicht aufhören zu weinen. Es musste unglaublich anstrengend für sie sein. Er spürte das Zittern, das ihren Körper befiel, und ein so unglaublicher, so unfassbarer, alles verschlingender Hass überkam ihn. Sie waren Schuld an ihren Schmerzen. Und sie würden dafür ganz sicher bezahlen.
»Azadım«, heulte sie ausgezehrt. »Nolursun...bitsin bu artık. Almasınalar seni benden. Nolursun almasınlar. [Mein Azad. Bitte...das soll aufhören. Sie sollen dich mir nicht wegnehmen. Bitte, sie sollen dich mir nicht wegnehmen.]«
Es fiel ihm schwer jetzt stark zu sein. Aber er wusste, dass er keine andere Wahl hatte. So wie er vor drei Jahren hatte stark sein müssen, musste er das auch jetzt nochmal. Für Rüya. Für die Zukunft. Für ihre gemeinsame Zukunft. Deswegen strich er ihr beruhigend über die Haare. »Reiß dich jetzt zusammen, Rüya«, befahl er sanft, drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ich brauche dich jetzt. Du musst stark sein für das, was kommen wird. Und egal, was sie sagen, egal was passiert, glaub ihnen nicht. Du schaffst das. Es werden einige schlimme Dinge passieren, aber du musst jetzt durchhalten. Ich hole dich hier raus, okay?«
Sie nickte, holte einige Male abgehackt und tief Atem. Schniefend presste sie ihre trockenen Lippen auf seinen Puls. »Seni seviyorum, Azadım [Ich liebe dich, mein Azad].«
Azad riss sich gewaltig zusammen. Seine Lippen machten nur noch eine schmale Linie. Beruhigend und besitzergreifend zugleich drückte er Rüya etwas fester an sich. Dabei funkelte er die umstehenden Männer an. Die Liebe kann alles besiegen, wird gesagt. Es war an der Zeit zu prüfen, ob das wirklich stimmte.
»Das reicht doch jetzt«, knurrte einer der Männer in die Richtung des älteren Mannes. Die Männer wirkten teils gelangweilt, teils angewidert und im Grunde alle bloß genervt ohne ihre Genervtheit offen zur Schau zu tragen. Der Mann mit dem Anzug verschränkte die Arme. »Bewundere doch diese wunderschöne Szene unter Liebenden. Herr Kaya zeigt uns hier gerade, wie viel ihm seine Frau bedeutet.« Der Mann sah zu dem knurrigen Entführer. Tadelnd. »Wir sollten diesen Moment schätzen. Aber du hast natürlich auch recht.« Augenblicklich schwang der kultivierte, schmeichelnde Ton aus seiner Stimme und sie bestand nur noch aus der Härte und Kälte, die diesen Mann so ausmachte. »Jeffrey, nehme dich unserem Gast doch an.« Damit sprach er einen der Männer an, die Rüya hergebracht hatten. »Herr und Frau Kaya, es ist an der Zeit sich zu verabschieden. Wenn alles nach Plan läuft, Herr Kaya, wird ihre Frau schon bald auf freien Füßen laufen.«
Azad glaubte ihm kein Wort. Panisch drängte sich Rüya an ihn, versuchte unbändig die Hände abzuschütteln, die ihre festhielten. Wimmernde Laute des Widerwillens entfuhren ihr. Unwillkürlich presste Azad sie fester an sich, doch ließ sie dann gehen, ehe man noch fester an ihr zerrte und ihr so weh tat. »Nein!«, schrie sie, ihr Körper vornübergebeugt, während man sie nach hinten zerrte.
»Jetzt halt endlich die Klappe, Schlampe!«
Rüya hörte nicht auf. Sie schlug wie wild um sich, befeuert von der Kraft der Liebe und der Hoffnung. Von Träumen. In ihren Augen glitzerte Wut und Stärke. Sie gab nicht klein bei, verpasste ihren Peinigen Tritte, obwohl sie ihr dafür nur noch mehr weh taten. Sie zerrten sie an ihren Haaren und ihren Armen, bis sie sich verweigernd auf den Boden fallen ließ. »Azad!«, kreischte sie atemlos. Man schleifte sie einfach weiter. Azad konnte kaum zusehen. »Rüya!«, rief er wütend, damit sie endlich aufhörte. Er wollte doch bloß, dass sie nicht litt.
»Azad, das darfst du nicht machen!« Sie keuchte wie eine Wilde. Flehte ihn mit Augen an. »Lass dich nicht mit ihnen ein! Ich flehe dich an, Azad, mach das nicht.«
»Das hat er bereits, meine Liebe«, warf der Anzugmann ein. »Und wenn dir sein Leben lieb ist, dann wirst du jetzt gehen.«
Er entsicherte eine Pistole und richtete sie auf Azad. Rüya erstarrte. Ihre Bewegungen gefroren ohne irgendeine weitere Bemühung und als man sie diesmal wegzerrte, folgte sie widerstandslos. Die Angst stand ihr riesengroß ins Gesicht geschrieben. Azads Herz wummerte wie verrückt. Rüya sah zu ihm, ihre veilchenblauen Augen ließen seine blauen nicht einmal für einen Moment los. Und als dann eine Träne ihre Wange hinabrollte und weitere folgten, war sich Azad ganz sicher, dass dieser Moment der größte Albtraum in seinem ganzen Leben war bis jetzt. Bitte, mein Herr, bitte, beschütze meine Frau und Selin. Hilf uns!
Er sah ihr nach, bis sie in den Wagen verfrachtet wurde und weggebracht wurde. Es war der Abschied zweier Liebende, die nicht wussten, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Es war Zeit. Und Azad wusste das. Also sperrte er nun endgültig alles aus seinem Bewusstsein, was ihm jetzt seine folgende Arbeit erschweren würde.
Lügen wurden zu Wahrheiten und Wahrheiten zu Lügen. Nun mussten sie alle aufgehoben werden, damit man das wirklich Wahre erkennen konnte.
Es war Zeit.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt