Einundvierzig

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A Z A D



Manchmal konnte eine Zigarette jemanden retten. Oder sie tötete einen. Höchstwahrscheinlich tötete sie eher als sie rettete, aber wahrscheinlich machten die kurzen Momente, in denen sie jemanden rettete, all die späteren Folgen wett. Zumindest für den Moment. Wir ignorieren, dass diese Zigarette ein heimtückisches Monster ist, das sich langsam Macht über uns erschleicht indem es uns süchtig macht nach den Momenten der Rettung. Und vielleicht liegt das genau daran, dass wir uns diese Rettung so sehr wünschten. Dass wir so dringend etwas suchen, das uns rettet, dass wir ignorieren, dass eine Zigarette keine wirkliche Rettung ist. Sondern nur genauso vergänglich wie auch alles andere in diesem Leben. Azad schaute die noch halb volle Zigarettenpackung in seiner Hand an, die er gefühlt vor einer Ewigkeit das letzte Mal angerührt hatte. Zigaretten waren nie wirklich sein Ding gewesen. Er hatte geraucht, hatte ein bestimmtes Bild von sich erzeugt - und somit eigentlich nur vertuschen wollen, wer er wirklich war. Dass man Anıl Karaca nicht mehr in ihm finden würde. Aber die Wahrheit war, auch wenn Anıl gestorben war, war er doch irgendwo quicklebendig. Er hatte es nie ganz geschafft ihn zu vertreiben, obwohl er sich so sehr darum bemüht hatte. Jetzt, wo die Straßenlaternen ihren falschen Schein auf seine schwarzen Haare warfen, wurde ihm das erst so wirklich bewusst. Er hatte Rüya verlassen, weil er es nicht mehr ertragen hatte bei ihr zu bleiben. Na ja, er war in den Balkon hinausgetreten, die Tür hinter sich geschlossen und viel mehr als nur das zwischen ihnen geschlossen. In seiner Brust herrschte diese Enge, die irgendwie nicht mehr nachlassen wollte. Vor allem seitdem er seine Mutter und Schwester gesehen hatte. Zum ersten Mal nach all dieser Zeit. Azad starrte die Zigaretten weiterhin an, dann warf er sie über die Brüstung hinweg. Er klammerte sich daran fest und nickte sich selbst zu. Das war die richtige Entscheidung gewesen. Zigaretten konnten jemanden nicht retten. Das konnte nur Gott und er selbst.
Er schaute in den dunklen Himmel hinauf und bewunderte die fern gelegenen Sterne. Ihr unermüdliches Funkeln. Es gab unendlich viele. Manche waren näher, andere ferner. Menschen waren genauso. Mal nah, mal fern in einer breiten Masse des unermüdlichen Seins. Er seufzte tief, fasste einen schwachen Entschluss. Dann drehte er sich um und betrat wieder die Küche. Selbst jetzt wäre er am Liebsten im Erdboden ertrunken vor Scham, wenn er sich daran zurückerinnerte, wie ein kleiner Junge geheult zu haben. Vor Rüya. Es war ihm unangenehm, schließlich hatte er schon seit Jahren nicht mehr geweint. Er verzog das Gesicht, während er sein Handy zückte und ein paar Nachrichten verschickte. Geräusche aus dem Badezimmer machten deutlich, dass Rüya gerade wohl darin war, also konnte er ohne Bedenken in ihr gemeinsames Schlafzimmer und sich dort schnell seines unbequemen Hemdes entledigen. Azad tauschte es gegen ein gemütliches altes Shirt aus und schnappte sich bei der Gelegenheit auch noch eine Tasche, die er mit einer Jogginghose und ein paar weiteren Kleinigkeiten füllte. Gerade als er fertig war, kam aber Rüya rein. Augenblicklich setzte sich eine Schwere zwischen ihnen fest. Er hielt inne, traute sich kaum zu ihr aufzuschauen. Sie zögerte ebenfalls. Als er sah, dass sie bloß eines seiner kurzärmligen Oberteile trug, musste er schlucken. Schlanke Beine lugten unter dem Saum hevor, während sich ihre dunklen Locken wild um ihren Kopf bauschten. Wie konnte sie nur so umwerfend unschuldig und schön sein? Er fühlte sich elend bei ihrem verführerischen Anblick. Natürlich hatte sie es nicht darauf angelegt, das wusste er. Dafür war sie viel zu natürlich und der heutige Tag war viel zu aufwühlend gewesen. Für beide von ihnen. Außerdem schlief sie öfter mal in seinen Sachen, vor allem dann, wenn sie Trost brauchte oder er über die Nacht arbeiten musste. Jetzt war wohl eine dieser Situationen. Es erfüllte sein Herz mit Demut und Liebe. Sie hüllte sich trotzdem in seine Sachen, suchte trotzdem seine Nähe, selbst wenn sie behauptete, ihm nicht mehr vertrauen zu können. Es tat weh.
»Wohin gehst du?«, flüsterte sie zögerlich als sie realisierte, dass er nicht den ersten Schritt machen würde. Diese Ungemütlichkeit zwischen ihnen war so lästig! Azad zuckte mit den Schultern. »Es ist das Beste, wenn ich dich heute alleine lasse. Für uns beide.«
Sie blinzelte ohne eine weitere Reaktion zu zeigen. Dann wieder ein Zögern. »Hast du denn einen Ort, wo du hinkannst? Du musst nicht extra gehen, weißt du? Das hier ist auch dein Zuhause und ich möchte nicht, dass du das Gefühl hast von hier weggehen zu müssen.«
Sie schluckte hörbar und schlang die Arme um sich. Was sie noch wunderschöner aussehen ließ. Gepriesen sei Allah für ihre Schönheit, dachte er sich bewundernd.
Ein müdes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. Ihr Vorschlag war gut gemeint und freute ihn ungemein, aber sie brauchten diese Distanz jetzt wirklich. »Alles gut, Rüyam. Ich werde zu Necmiye Teyze oder zu Joshua gehen.« Er sagte das, um sie zu beruhigen; damit sie sich keine Sorgen machte. Nuschelnd stimmte sie zu. »Okay.«
»Wenn was sein sollte, mein Handy werde ich auf laut stellen. Ruf an. Und wenn es nur Selin ist, die einen Albtraum hat, verstanden?«
»Okay.«
Er schulterte seine Tasche, kontrollierte nochmal, ob er alles hatte. Zögerte den Moment hinaus. »Und mach die Tür niemanden auf. Schließ hinter mir ab und kontrollier nochmal.« Er furchte seine Stirn bei dem Gedanken, was alles passieren konnte. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass er sie für eine Nacht alleine ließ. Tatsächlich passierte das sogar ziemlich oft. Leider. Aber es war das erste Mal seit der Entführung, dass er die Nacht nicht bei ihr sein würde, um auf sie aufzupassen. Er hatte Angst, dass jemand kommen und ihr weh tun könnte. Rüya verdrehte die Augen. »Okay, Boss, sonst noch was?«
Bei ihrer frechen Antwort runzelte er noch stärker die Stirn. »Ich meine das ernst, Rüya«, erklärte er mit tiefer Stimme, die barsch klang. »Du wirst hinter mir alles noch einmal kontrollieren. Und wenn auch nur das Geringste passieren sollte, rufst du mich direkt an!«
»Ja, kapiert. Ich bin kein kleines Kind, weißt du?«
»Ich weiß«, erwiderte er jetzt sanfter, stand genau vor ihr. Sie musste den Kopf leicht anheben, um ihm in die Augen sehen zu können. Weil er nicht anders konnte, beugte er sich zu ihr hinunter und legte seine geöffneten Lippen federleicht auf ihren Mundwinkel. Sog ihren Duft tief in seine Lungen an und genoss die Nähe zu ihr. Es kribbelte in seinen Lippen ihr einen richtigen Kuss zu geben, aber er hatte Angst sie beide damit zu überwältigen. Also gab er sich damit zufrieden und zwang sich aufzuhören. Eine leichte Röte hatte sich auf ihre Wangen gelegt, ihre Augen hatte sie niedergeschlagen. »Ich verabschiede mich noch kurz von Selin«, teilte er ihr mit. Was er dann auch tat. Das kleine Mädchen schlief zwar tief und fest in ihrem Bett, trotzdem beugte er sich über sie und strich ihr zärtlich über die Haare. Selin seufzte leise auf, wachte aber nicht auf. »Ich vertraue euch Allah an«, wisperte er leise. »Schlaf schön, Prinzessin.«

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt