Eins

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R Ü Y A



Erschöpft stieß sie die Luft aus ihren Lungen. In feinen Schlieren rann ihr der Schweiß über Stirn und Wangen. Mit dem Handrücken der rechten Hand, in der sie immer noch den nassen Lappen hielt, strich sie sich einige ihrer widerspenstigen Haare aus der feuchten Stirn. Mit müden Bewegungen warf sie den dreckigen Lappen in einer extra dafür vorgesehenen Plastiktüte, streifte sich die quietschgelben Gummihandschuhe von der Hand, verstaute sie im Metallwangen vor ihr und fuhr ihn dann durch die langen, dunklen Gänge, die nur von Neonlichtern beleuchtet wurden. Ihre Schritte wurden von den Wänden widergeworfen und wäre sie etwas ängstlicher gewesen, hätten ihr die Geräusche des Putzwagens und ihrer  Schritte eine Heidenangst eingejagt und gleichzeitig dafür gesorgt, dass sie ständig einen Blick über ihre Schulter werfen würde. Dass sie es nicht war, erleichterte ihr eine menge Arbeit. Nachts in einem alten Firmengebäude zu putzen, in dem man praktisch die meiste Zeit alleine in irgendwelchen dunklen, verlassenen Gängen war, und in denen hinter jeder Ecke ein potenzieller Mörder hervorgesprungen kommen konnte, war nichts für schwache Nerven. Routiniert lagerte sie den Putzwagen in dem Putzraum ab, als auch schon mit weiteren Schritten eine Mitarbeiterin angekündigt wurde. »Ah, Rüya, bist du schon fertig?«, fragte Frau Arslan, eine nette Frau gegen Ende vierzig.
»Ja, Frau Arslan. Wir sehen uns dann morgen. Gute Nacht noch.« Gerade, als sie aus dem Raum, geradewegs an ihr vorbei, flüchten wollte, hielt sie Rüya mit ihrer Stimme zurück. »Warte noch kurz, Rüya!«
Darum bemüht, nicht allzu ungeduldig auszusehen, drehte sie sich wieder um. Es war nicht so, dass Rüya nicht gerne mit Frau Arslan plauderte, doch nachdem sie fast achtzehn Stunden lang gearbeitet hatte, taten ihr die Beine und Füße weh, ihre Arme und Hände schmerzten schrecklich und hinter ihren Schläfen saß ein Pochen, das den Schlafmangel der letzten Nacht verklagte. Außerdem war sie so unglaublich müde, dass sie kurz davor war, im Stehen einzuschlafen. Sie wollte schleunigst nach Hause und in ihr Bett fallen. Fragend guckte sie Frau Arslan an.
»Gibt es etwas Neues wegen der Sache mit Selin?«, fragte sie aufrichtig interessiert. Und besorgt. Natürlich. Resigniert und gleichzeitig wütend presste Rüya ihre Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, als ihr das Gespräch mit ihrem Anwalt von heute Mittag wieder in den Sinn kam. »Es tut mir Leid, Frau Özdemir«, hatte er am Telefon gesagt. Seine Stimme in einem geschäftsmäßigem Ton und ohne jegliches Mitgefühl. »Es kann nichts an der derzeitigen Lage geändert werden, solange Sie nicht bessere Lebens- und Zukunftsaussichten aufweisen. Der Staat weigert sich.«
Sie war wütend gewesen, ja, außer sich tobend vor Wut - ,doch schlussendlich war es jedes Mal dasselbe. Schon seit fast zwei Jahren führte sie diesen Krieg mit dem Staat und jedes Mal waren die Erfolgsaussichten gleich niedrig. Dabei gab sie so viel Geld für diesen Anwalt aus - alles für nichts und wieder nichts! Doch sie weigerte sich, aufzugeben. Irgendwann würde sie es schaffen, daran glaubte sie ganz fest. Doch langsam gingen ihr die Mittel und Wege aus. Natürlich war der Anwalt kühn genug gewesen, ihr tatsächlich den Vorschlag zu machen, es aufzugeben. Er wusste genauso gut wie sie, dass sie nicht die nötigen finanziellen Mittel besaß, um in ferner Zukunft einen Erfolg aufweisen zu können. Außerdem konnte sie ihn gerade knapp für seine - mickrige und ungenügende, wie sie fand, - Arbeit zu bezahlen. Sie hatte gesehen, wie er über eine Klientin wie sie bei ihrem ersten Treffen die Nase verächtlich gerümpft hatte, wie er um sein Geld gebangen hatte. Trotz dessen war er der einzige Anwalt, den sie sich leisten konnte und das mit mehr Verlust für sie, als er ahnen konnte.
Sie schüttelte den Kopf, als sie wieder in der Gegenwart ankam. »Leider keine guten«, teilte sie mit. »Der Antrag wurde abgelehnt. Wieder einmal.«
Sorgenfalten gruben sich auf Frau Arslans Stirn. Kurz huschte Unsicherheit über ihre Züge, ehe sie sich wieder straffte. »Das tut mir leid. Rüya...ich weiß zwar, dass du das nicht willst, aber denk bitte noch einmal über meinen Vorschlag nach. Es würde dir und Selin helfen.«
Langsam atmete sie aus der Nase aus, ließ die Luft gleichmäßig entweichen, um ihre Wut zu vertreiben. In Gedanken flüsterte sie Allah's Namen. Entschlossen schüttelte sie den Kopf. »Sie haben recht, Frau Arslan. Ich will es wirklich nicht.«
»Ich wollte dich nicht verärgern. Du weißt, ich meine es nur gut.«
Rüya nickte, verabschiedete sich erneut von Frau Arslan und marschierte dann schnurstracks zur Rezeption, bei der sie sich abmeldete. Sie suchte ihren Namen in der Liste, warf einen Blick auf die in der Stille laut tickende Uhr und notierte diese.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt