Neunzehn

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R Ü Y A




»Wir haben...Käse«, zählte Joshua auf, während er gleichzeitig die Einkaufstüte entleerte, »noch mehr Käse, Tomaten, wieder Käse, Butter, Salat, Marmelade, Brot und...oh, nochmal Käse!« Rüya verdrehte ihre Augen. Stolz grinste er sie an. »Ist das ein super Frühstück oder was?«
»Oder was«, antwortete Selin wie aus der Pistole geschossen und rümpfte die Nase.
»Hast du Angst, dass dir ein Käse nicht reichen wird, Junge?«, witzelte Necmiye Teyze, während sie die Teller auf den Tisch deckte. Beleidigt zog Joshua seine Augenbrauen zusammen. »Ihr seid gemein. Ich verpetzte euch bei Azad, wenn er wieder da ist.«
»Jetzt mal ehrlich«, meinte Rüya, während sie die Einkäufe einsortierte, »warum brauchst du so viel Käse? Hast du eine Käsesucht oder so was?«
»Und wenn's so wäre? Ihr würdet mich doch bloß auslachen, ihr gemeinen Hühner.«
Selin kicherte in typisch kindlicher Manier. »Joshua abi, du kannst echt nicht beleidigen!«
Joshuas Rache bestand aus einer Kitzelattacke, die Selin fast aus dem Stuhl riss. Wild kreischte sie und versuchte Joshua abzuwehren. Der sie nur noch heftiger kitzelte, bis Rüya schließlich eingreifen musste, weil sie befürchtete, dass Selin sonst an einer Kitzelattacke starb. »Spaßbremse«, zog Joshua über ihr her und schmollte gleichzeitig. Rüya verkniff sich ein Lachen. »Bitte, hör auf mit diesen Einschüchterungen, sonst mache ich mir vor Angst noch in die Hose.«
»Solltest du auch. Ich habe eine Waffe. So eine hübsche, kleine Beretta.«
»Wahrscheinlich wärmt sie dir nachts das Bett und du schläfst mit ihr.«
Völlig ernst entgegnete Joshua: »Ja, natürlich.«
Zuerst lachte Rüya, doch sein ernster Blick blieb. Schockiert riss sie die Augen auf. »Warte - das meinst du ernst? Bist du paranoid?«
»Ich bin Polizist«, entgegnete er. »Außerdem bin ich mir sicher, Azad schläft mit einem ganzen Waffenarsenal unter seinem Kissen.«
»Dass er Paranoia hat, weiß ich ja, aber wirklich, was passiert, wenn du dich im Schlaf selber verletzt?«
»Liebe ist ein einziges Risiko«, witzelte er wieder. Dann machte er auch fröhlich trällernd daran, die Teller aus einem Schrank zu holen.
»Danke, dass wir hier bleiben dürfen.«
»Ich glaube, ich überlege es mir gleich nochmal anders.« Er zwinkerte Selin zu, die ihm zur Hand gehen wollte. »Zuckermaus, setz dich, du bist der Gast. Mein Ferienhaus, meine Gäste.«
»Na ja, eigentlich sind wir ja-«
»Klugscheißerin!« Die symbolische Geste für ›ich halte die Klappe‹ kommentierte er mit einem Schnauben.

 »Hier

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»Hier.« Überrascht hob Azad seinen Kopf, den er auf die Küchenplatte gestützt hatte. Dann sah er den Kaffeebecher, den Rüya ihm auf den Tisch gestellt hatte. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich um einen Tick, seine Augen blicken kritisch und völlig ernst. »Du kannst sowas nicht machen«, behauptete er und richtete sich vollkommen gerade auf. Trotzdem griff er nach dem Becher und irritierte Rüya somit noch mehr. »Was? Was kann ich nicht machen?«
»Das da.« Er nickte auf den Kaffeebecher, dann irgendwie auf sie und auf sich. »Du kannst das nicht einfach machen und mit keiner anderen Reaktion rechnen!«
Rüya zog die schwarzen Brauen zusammen. »Welche Reaktion? Azad, wovon redest du?«
»Von dir«, sagte er jetzt mit Nachdruck, deutete auf sie, »von mir«, er deutete auf sich, »und von Kaffee.«
»Du, Ich und Kaffee?«, wiederholte Rüya nicht weniger verwirrt. »Hat dich Joshua angesteckt, oder so?«
»Genau, du, ich und Kaffee!« Er nahm einen genießerischen Schluck. »Definitiv, du, ich und Kaffee! Allah, ich muss gestorben und irgendwo im Paradies sein!«
Sie war völlig verdutzt, total durcheinander. Trotzdem war da etwas, das ihr Herz höher schlagen ließ und ihr den Atem stahl.
»Es ist kalt ohne dich, weißt du?«, fing Azad ganz plötzlich an. Ernst. Die Hände um den Becher geschlossen, der Blick nachdenklich und irgendwie...aufgeklärt. Verletzlich. Ungeschützt. Rüyas Herz beschleunigte seine Schlagzahl. Im ersten Moment konnte sie gar nicht sagen warum, dann fiel es ihr auf. So hatte sie ihn noch nie gesehen. So...verletzlich und offen. Azad hatte stets diesen misstrauischen, verschlossenen Ausdruck in seinen Augen, der ihn nie so ganz irgendwo hineinpassen ließ. Sie würde gerne etwas erwidern, wusste aber nicht genau was. Was sie sah, erschreckte sie und sie wusste nicht damit umzugehen. Der Moment war nicht von Dauer, denn Azad schlug seine Augen nieder, und als er sie das nächste Mal wieder auf Rüya richtete, war die Mauer wieder da. Als sei nie etwas passiert. Als hätte er sie nie mit diesem Blick und diesen Worten vollkommen entwaffnet. »Vergiss es«, sagte er lächelnd, versuchte alles herunterzuspielen. Zu spät, flüsterte es in ihrem Kopf. Ihr Herz pochte bereits kräftig gegen ihre Brust. Azad war ein gefährlicher Typ, aber ohne die willkürliche Distanz war er noch gefährlicher. Rüya wusste ganz genau, sie sollte sich jetzt umdrehen und gehen, aber sie konnte nicht. Einmal wollte sie richtig leben, alles hinter sich lassen und sich nur auf den Moment konzentrieren. So tun als sei sie eine ganz normale Zwanzigjährige mit ganz normalen Problemen. Nicht mit der Last eines Kindes, das bereits mit siebzehn auf ihren Schultern gelastet und den Folgen eines schwerwiegenden Verlustes, der sie komplett umgeworfen hatte.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie also. Ihr Instinkt schrie nach Flucht, aber sie zwang sich ihm trotzdem in die Augen zu schauen. Wann hatte sie sich eigentlich in ihn verliebt?
Keine Ahnung. War das denn schon Liebe? Oder war es erst dabei Liebe zu werden? Konfus schüttelte sie die Gedanken ab, um sich nicht zu sehr in ihnen zu verlieren. Ein kleines Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und er unterdrückte ein Lachen. »Mutiges Mädchen.«
Rüyas Augen verengten sich. »Wag es nicht!«
»Was denn?« Unschuldig zuckte er mit den Schultern. Sie zog einen Stuhl heran, setzte sich rücklings auf ihn und stützte dabei ihr Kinn auf der Lehne ab. Ohne eine Sekunde wegzuschauen, beobachtete Azad sie dabei. »Okay«, meinte sie, strich sich eine lose Locke aus dem Gesicht. Tief atmete sie ein. Gespannt neigte Azad nur seinen Kopf leicht zur Seite. »Du musst das nicht unnötig schwer machen. Es kann auch ganz einfach sein, weißt du?«
Bitter funkelte sie ihn an, aber im Grunde war sie dankbar dafür. Was sie vorhatte, fiel ihr gerade verdammt schwer. Es waren wie die Momente, die man kurz vor einem Sprung von der Klippe verbrachte. Man stand am Abgrund, starrte hinunter. Die Hände wurden schwitzig und kribbelten, der Atem wollte nicht so recht in die Lunge, das Herz hörte nicht auf zu pochen. Und dann? Dann blickte man auf, löste sich von allem, befreite die Gedanken und dann - dann sprang man. Einfach so.
Sie konnte das auch.
Also fing sie einfach an zu reden. »Seit drei Jahren habe ich keine einzige Person mehr hinter die Trümmern sehen lassen. Das erste halbe Jahr war der Horror. Das zweite noch schlimmer. Irgendwann habe ich einfach aufgehört zu leben und angefangen zu warten. Worauf wusste ich nicht mal selber. Ich glaube, jetzt weiß ich es. Auf das Unmögliche. Ich weiß nicht wie, aber du reißt alles Alte nieder und irgendwie baust du etwas ganz Neues auf. Du hast die Trümmer einfach aufgehoben, Azad. Mit bloßen Händen. Ich habe keine Ahnung, was noch kommen wird. Ich weiß nicht, warum man mich umbringen will. Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich da reingezogen habe und auch, dass du mir jemals begegnet bist. Du verdienst jemanden, der nicht so kaputt ist. Ich bin hinüber, Azad, schau mich an!« Sie streckte beschämt die Arme aus. Befangen und unangenehm berührt, aber trotzdem mit der Notwendigkeit, sich zu erklären. »Ich weiß nicht, ob ich jemals über diese Probleme hinwegkommen werde«, fuhr sie leise fort. »Ich bin ein komplettes seelisches Wrack. Also - warte -« Unerwartet hielt sie inne.
Erwartungsvoll richtete Azad sich in seinem Stuhl etwas nach vorne. »Was?«
»Wann hast du deine Füße auf den Tisch gestellt?« Missbilligend starrte sie ihn an. »Nimm deine Füße vom Tisch!«
  »Meine Füße haben es da aber gerade so bequem.« Eine schwache Argumentation, wie Rüya fand. Unbeugsam stemmte sie die Hände in die Seiten. »Das ist eklig; total unhygienisch! Jetzt nimm sofort deine Füße da weg.«
»Du bist eine richtige, kleine Tyrannin, Rüya, weißt du das?« Schadenfroh grinste sie ihn an und er gehorchte. »Klar, wenn nicht ich dich tyrannisiere, wer denn sonst?«
»Du kleines Biest! Wenn das alles vorbei ist, kriegst du einen Ring von mir.« In seinen blauen Augen glitzerte der Schalk und das Versprechen nach Rache. Doch darunter eine gewaltige Schicht voller Hoffnung, voller Selbstsicherheit, voller Zärtlichkeit. Ihr Herz geriet in Stolpern bei seinen beiläufigen Worten. Wumm. Wumm. Wumm.
War das Realität?
Das war die Liebe, die sie gefunden hatte. Die Liebe, die sie erwischt hatte und die jetzt lautstark ihren Preis einforderte. Ein Traum inmitten eines Albtraums.
Es würde nicht einfach werden, das wusste sie, doch was im Leben war schon einfach? Was war wertvoll, wenn es nicht schwierig war?

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt