Problemlos öffnete Azad die Eisentore des Friedhofs

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Problemlos öffnete Azad die Eisentore des Friedhofs. Die Luft schien aus Eis zu bestehen. Er zupfte die lässige Strickmütze auf seinem Kopf zurecht, während er an verschiedenen Gräbern vorbeilief. Er hatte versucht Rüya zu erreichen, aber da sie mittlerweile auch nicht mehr bei seiner Tante wohnte, war es schwierig an sie ranzukommen. Nach mehreren Versuchen war er schließlich bei ihr vorbeigefahren als er aus dem Dienst kam, doch sie war nicht da. Rüya hatte heute die Mittagschicht und Selin war noch in der Schule. Wo konnte sie also sonst sein, als beim Grab ihrer Eltern?
Er hatte recht.
Schon aus einiger Entfernung sah er die zierliche Gestalt auf dem Boden kauern. Der Wind trug wispernde Worte an sein Ohr und tatsächlich sah es so aus, als würde sie reden. Er wollte nicht stören oder bei einem intimen Gespräch lauschen, allerdings war da Neugier. Sie sprach zu ihren Eltern als würden sie noch leben. Erzählte ihnen von Selin und davon, dass es beiden gut gehen würde. Dann fing sie an zu beten. Die Kälte war so schneidend, dass Rüyas Körper unablässig zitterte. Irgendwann konnte Azad sich das nicht länger ansehen. Sie war zerbrochen und schnitt sich mit jedem Wort ständig an den Scherben. Rau räusperte er sich. »Rüya.«
Sie zuckte zusammen als er sich langsam neben sie kauerte und sah mit feuchten Augen zu ihm auf. »Komm«, forderte er sie leise auf, »es ist schon genug.«
Nickend biss sie sich auf die Unterlippe. Azad hielt es nicht länger aus, sie in diesem Zustand zu sehen. Er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie an sich. Sie stützte ihren Kopf auf seiner Schulter ab. Einige Momente saßen sie so beieinander, bis Azad zur Rückkehr drängte. Es war einfach eisig kalt! Wie lange war sie schon in dieser Kälte? Mit dieser dünnen Jacke? Kopfschüttelnd dirigierte er sie in seinen Range Rover und drehte sofort die Heizung auf. »Hier, leg die um dich«, befahl er und reichte ihr seine Jacke. Zum Glück widersprach sie nicht, sondern schlüpfte direkt in seine Jacke.
»Wann musst du zur Arbeit?«, fragte Azad, während er konzentriert den Wagen aus der Parklücke fuhr.
»In einer Stunde.« Sie kuschelte sich tiefer in den Sitz und er warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie ging fast unter in der Jacke und er musste grinsen. Aber es gefiel ihm. Ein unbeschreiblich wohlwollendes und primitives Gefühl durchzuckte ihn. Scheiße, am Besten sollte sie nur in seinen Sachen rumlaufen.
»Hör auf mich auszulachen«, grummelte sie halbherzig.
»Wir gehen dir jetzt eine Jacke kaufen.« Er schüttelte warnend seinen Kopf, als er schon die Räder in ihrem Kopf arbeiten hörte, um sich da rauszureden. »Ein Wort dagegen und ich mache kurzen Prozess mit dir. Du hast die Wahl. Komm mit und suche dir selber eine aus oder ich erledige das.«
»Welche Wahl?« Sie schnaubte. Er zuckte bloß mit den Schultern. Dieses Mädchen war doch verrückt. Er wusste, dass es für sie eine ungewohnte Erfahrung war, dass er sich um sie sorgte. Und auch, dass sie versuchte ihren Stolz zu bewahren. Aber wenn ihr Stolz sie dem Risiko krank zu werden aussetzte, dann würde er keinerlei Rücksicht darauf nehmen.
Sie spazierten durch die überfüllte Mall, liefen an verschiedenen Schaufenstern vorbei. Azad ließ Rüya bestimmen in welche Geschäfte sie wollte und welche nicht. Sie war ein einfacher Mensch mit keinen hohen Anforderungen. Fast alles schien ihr recht zu sein. Selbst wenn es nicht so gewesen wäre und sie Azad durch unzählige Geschäfte schleifen würde, würde er sich glücklich schätzen und Gefallen daran finden. Ihre verschiedenen Gesichtsausdrücke und Reaktionen zu beobachten war viel zu unterhaltsam für ihn.
In einem standardmäßigem Kleidungsgeschäft schauten sie sich nach verschiedenen Jacken und Mänteln um. Sie streifte die Bügel, musterte alle hochkonzentriert. »Hm«, machte sie und probierte eine khakifarbene Jacke an. »Was meinst du?« Sie schaute unsicher zu ihm.
»Meine Meinung zählt nicht«, stellte er klar. »Was immer du willst.«
»Ist das deine subtile Art mir zu sagen, dass das nicht gut aussieht?« Er musste ein Grübchenlächeln lächeln. »Nein, das ist meine Art dir zu sagen, dass alles an dir wunderschön aussieht.«
Sie errötete, obwohl sie ihn gleichzeitig anfauchte. »Hör auf damit!«
Es war bezaubernd, wie sie versuchte ihre Verlegenheit zu kaschieren. »Und wenn nicht?«
Sie stöhnte und schlug die Hände vors Gesicht. »Azad!«
»Hier, probiere die mal an.« Unvermittelt hielt er ihr einen grauen Mantel hin. Sogleich schlüpfte sie aus der Jacke, die sie gerade trug, und streifte den Mantel über. »Fühlt sich gut an«, meinte sie nach einigen Momenten, in denen sie kurz hin und herlief und sich im Spiegel betrachtet hatte. »Probiere aus, wie es sich anfühlt, wenn du die Hände in den Jackentaschen hast«, meinte Azad. Rüya kräuselte leicht ihre Augenbrauen. »Warum ist das ein extra Kriterium?« Trotzdem gehorchte sie. »Da ist was!«, rief sie plötzlich erstaunt aus. Als sie die Hand wieder aus der Tasche zog, hielt sie den schmalen Reif in der Hand. Erstarrt und völlig erschüttert schaute sie auf ihre Hände. Ihre Schultern waren vollkommen verspannt, ihre Gesichtszüge entgleist. Plötzlich fiel Azad das Atmen schwer und seine Hände kribbelten. Verdammt, dabei war es so ungewöhnlich für ihn derart nervös zu sein! Sein Herz drohte mit dem Schlagen aufzuhören. Ihre Reaktion fiel anders aus als erwartet. Unbeholfen rieb er sich über den Nacken. »Ich habe es dir versprochen, weißt du noch? Wenn das alles vorbei ist, habe ich gesagt. Na ja, ich mache keine leeren Versprechen und...scheiße!«
Sie weinte. Eine dicke Träne kullerte ihre Wange hinab, während sie weiterhin ganz starr blieb. Er fluchte, ging vor ihr in die Knie. »Rüya.« Seine Stimme klang etwas schroff, aber er hatte auch nicht erwartet, dass sie so reagieren würde. Die Situation überforderte ihn. Er wusste nicht genau, was er machen sollte. »Ich bin nicht gut darin, ehrlich nicht. Bitte, hör auf zu weinen. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Du musst nicht einmal etwas sagen, geh einfach, wenn du nicht willst. Aber...es tut mir ehrlich leid, wenn das zu früh ist oder zu unerwartet.« Hilflos zwang er sich die Hände bei sich zu behalten und sie nicht zu umklammern. Fest presste er den Mund zu einer Linie. Er fühlte sich wie der letzte Idiot. Was sollte er jetzt bloß machen? Sie hatte sich immer noch nicht geregt. Er machte alles falsch! Nun ja, das Geschehene konnte er nicht mehr rückgängig machen, dachte er grimmig. Um ehrlich zu sein würde er erneut um ihre Hand anhalten, wenn er die Wahl hätte. »Ich bin kein besonders romantischer Mann oder kreativ in der Hinsicht. Wenn du willst, mache ich einen Kniefall oder was auch immer. Hör mich bitte an, bevor du jetzt etwas beurteilst.« Er senkte die Stimme und bezwang die Panik. Kurz sah er auf seine Schuhspitzen, ordnete seine Gedanken und biss sich dabei leicht auf die Unterlippe. »Da sind eine Menge von ganzen Sachen in meinem Leben über die ich dir nie etwas werde erzählen können.« Unter dunklen Wimpern sah er zu ihr auf. »Es wird vielleicht nicht einfach, damit zu leben. Du solltest wissen, worauf du dich einlässt, wenn du dich auf mich einlässt. Ich kann dir nicht allzu viel bieten. Und ja, vielleicht kommt das wirklich zu früh. Aber ich erkenne eine besondere Frau, wenn ich ihr begegne. Wenn wir das schon machen, dann richtig. Keine halben Sachen. Also, heirate mich Rüya Özdemir.«
Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Es war nicht strahlend und vollkommen frei von Sorgen, von der Last der Vergangenheit und all den Schmerzen, die sie jeden Tag wie unsichtbare Narben an ihrem Körper trug, aber es war das glücklichste, das er jemals auf ihrem Gesicht gesehen hatte. Wenn sie so lächelte, würde er alles für sie tun. Der Tränenfluss hörte nicht auf und er wartete immer noch angespannt auf eine Antwort. »Wenn du bereit bist, dann bin ich es auch. Also ja, Azad Kaya, ich heirate dich.«

Wandelnder TraumWhere stories live. Discover now