Unentbehrlich bleibt unentbehrlich

25 7 7
                                    

"Er lügt dich an."
Stean sieht furchtbar ernst dabei aus, wenn er das sagt.
"Er lügt dir mitten ins Gesicht", wiederholt er.
"Wie kommst du darauf?", frage ich.
"Iara. Ich dachte, ich wäre in dich verliebt. Und dieser Typ, Lille - der ist es. Er ist verliebt in dich. Er ist eifersüchtig, er reagiert völlig über, wenn es um dich geht. Ich glaube das wirklich."
"Ernsthaft?"
"Ja. Aber es ist gut, dass er den Post zurückgezogen hat. Es wäre noch besser, wenn er das nicht bloß getan hätte, um es sich mit dir nicht noch weiter zu verscherzen."
Mein allerbester Freund auf der ganzen weiten Welt zieht sein Handy aus der Tasche, um auf die Uhr zu schauen. "Wollen wir Kaffee trinken gehen oder so? Es ist noch früh. Außerdem hab ich keinen Bock auf Bastian."
"Sollte der denn überhaupt wiederkommen", seufze ich, in Gedanken an unseren Streit versunken. "Glaubst du echt, dass Lille sich in mich verliebt hat? Er hängt eigentlich ziemlich am Arsch seiner Ex-Freundin", erkläre ich und zücke ebenfalls mein Handy, damit ich ihm ein Foto von Laska zeigen kann.
"Ist ihm nicht zu verübeln", leckt Stean sich einmal kurz über die Lippen und eine Idee formt sich in mir.
"Denkst du, was ich denke?", schaue ich ihm tief in seine schokoladenbraunen Augen.
"Meinst du, ich sollte meine Verführungskünste an ihr demonstrieren?", wackelt er mit den Augenbrauen. Über seine Mimik muss ich lachen, aber den eigentlichen Punkt hat er tatsächlich erfasst.
"Dann hätte ich wenigstens Gewissheit. Sagen wir mal, er reagiert überhaupt nicht darauf, wenn du sie anbaggerst, dann muss ich wohl in Betracht ziehen, dass er irgendwas für mich übrig hat, was über unsere, na ja, Freundschaft hinausgeht."
"Du könntest auch einfach meinem Urteil Glauben schenken, dass ich aufgrund meiner langen Lebenserfahrung getroffen habe", tut er beleidigt.
"So viel älter bist du jetzt auch nicht und wenn wir erst unser geistiges Alter vergleichen -"
"Pass auf, was du sagst, Prinzessin."
Grinsend schüttele ich den Kopf und zeige auf ein schnuckeliges Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. "Verpassen wir dir mal eine ordentliche Morgenlatte", schlage ich vor.
"Mir eine Morgenlatte zu verschaffen fällt nicht in deinen Aufgabenbereich, nur um das klarzustellen", lacht er.

Drüben in den kuscheligen Räumen im niedlich französisch angehauchten Einrichtungsstil, wärmen wir uns nach unserem mehrstündigen Spaziergang auf.
"Du hast es gut mit Tua getroffen", stellt Stean plötzlich unvermittelt fest.
"Das brauchst du mir nicht zu sagen", lächele ich verträumt vor mich hin.
"Irgendwie hast du einen guten Geschmack, was Kerle angeht. Mit Harvey war ich einverstanden und ihr wart süß, aber es ist nett zu sehen, wie du mehr und mehr anfängst, das Konstrukt von Liebe zu entschlüsseln."
"Jedenfalls ist sie nicht immer rosarot und wundervoll, soweit hab ich das schon begriffen", nicke ich zu seinen Worten.
"Ja, sie kann wahnsinnig wehtun."
"Das gehört dazu, oder?"
"Kein Paar hat sich nicht mindestens einmal gestritten."
"Gib einen Tipp ab: Wie steht's um Bastian und Julie? Kommen die beiden wieder zusammen?", springe ich zum nächsten Thema, das ich unwillkürlich mit dem vorherigen assoziiere.
"Sie waren ewig in einer Beziehung. Für Bastians Verhältnisse ewig. Er trennt sich, sobald ihm etwas nicht passt. Bei Julie hat ziemlich lange alles gepasst. Und vielleicht hat Bastian mittlerweile hereusgefunden, dass niemals alles passen kann und dass er Abstriche machen muss und stattdessen nach der Person suchen sollte, bei der er das Minimum dieser Abstriche zu machen hat. Diese Person könnte Julie sein. Oder deine Schwester."
"Carrie wird sich in nächster Zeit nicht von Henry trennen."
"Wann hattet ihr das letzte Mal Kontakt?"
"Wieso? Weißt du mehr als ich?"
"Nein, du hast recht, die Frage zielte nicht auf Henry ab. Carrie hat mir nur erklärt, dass sie gerne leichter an dich herankäme. Es fällt ihr aber schwer, weil du einen Haufen Freunde hast, die dir sehr vertraut sind, unter anderem fast auf einem ähnlichen Level wie deine Schwester."
"Quatsch, das beschränkt sich auf dich und Tarik."
"Was ist mit Ben und mit Marten? Und mit Tua?"
"Ben und Marten sind Familie, aber nicht wie Carrie. Carrie ist meine Schwester, Cas und Marten sind  Halbbrüder. Und Tua und Carrie kannst du sowieso nicht in einen Topf werfen. Mit Tua schlafe ich, Carrie ist verdammt nochmal meine Schwester ... Ih, ich will gar nicht weiter darüber nachdenken!", schlage ich mir die Hände vors Gesicht.
"Musst du auch gar nicht", erklingt da auf einmal eine mir nur allzu bekannte Stimme. "Du musst bloß mal mit mir reden, Spatz."
"Carrie!" Stürmisch falle ich ihr in die Arme und blicke mich nach Stean um, der mir kommentarlos schelmisch zuzwinkert.
"Ich fühle mich nämlich vernachlässigt", klagt meine ältere Schwester.
"Das tut mir furchtbar leid. Es war alles nicht einfach in letzter Zeit. Tua und ich waren getrennt, Bastian und ich haben viel gestritten, Stean war nicht da, es lief nicht so toll bei mir."
"Genau in diesen Momenten sollte ich einen Platz in deinem Leben haben, Iara", belehrt sie mich und ich stimme ihr stumm zu.
"Weiß du, was wir jetzt machen?"
"Tell me."
"Wir kaufen jetzt unsere Kleider für Mamas Hochzeit, einverstanden?"
"Jetzt?"
"Jetzt. Sonst kramst du wieder deine hübschen aber wenig festlichen Sommerkleidchen aus dem Schrank und tanzt so dort an. Das kann ich nicht zulassen, schließlich darf ich nicht die einzige Aufgedonnerte da sein. Du musst mir schwesterlichen Beistand leisten."
Mit fragendem Blick sehe ich mich nach Stean um.
"Ich komme mit", antwortet er, ohne dass ich laut ausgesprochen hätte, was mir durch den Kopf geht.
"Wie kannst du mich nur so gut kennen?", falle ich ihm in die Arme, denn wer, wenn nicht er, soll das Treffen mit meiner Schwester eingefädelt haben. Er macht seinen Job als bester Freund ausgezeichnet, das muss man ihm lassen.
"Liegt vielleicht an den mittlerweile fast sechs Jahren, die wir miteinander verbracht haben. Die Zeit, die du in Braunschweig bei mir warst, war mir immer die eine der schönsten dort, weißt du das eigentlich?"
"Nein, aber ich kann's verstehen. So hat es sich für mich auch immer angefühlt", erwidere ich leise und dann stelle ich mich auf Zehenspitzen und küsse ihn ganz zart und sanft auf die Wange. "Ich brauche dich, Stean. Ich werde dich immer brauchen."
Und in diesem Moment verstehe ich endlich, was das zwischen Tua und Jenn ist, warum es ist und wieso ich damit leben muss, wenn ich ihn nicht verlieren will. Das muss er schließlich auch und dadurch teilen wir wohl ein und dasselbe Schicksal. Was ist schon Liebe im herkömmlichen Sinn, verglichen mit der tiefsten aller Freundschaften, die zwei Menschen in der Lage sind, zueinander aufzubauen? Das eine wie das andere ist doch unentbehrlich.

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now