Kitt

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Hier auf den Toiletten verzeiht das Licht einiges, was sonst unüblich auf öffentlichen WCs ist. Die Tränenspuren auf ihren Wangen durchbrechen Carries Make Up wie ein Gebirgsbach durch den Stein schneidet, doch das fällt unter den warm-gelben LEDs, die von der Decke strahlen, kaum auf. Meine Schwester sieht ohne jeden Zweifel und trotz der schmeichelnden Lampen mitgenommen von den Geschehnissen aus.
"Ich bin dumm", sieht sie ihr Bild im Spiegel, beleidigt es eher als dass sie es genau betrachtet, und kramt hektisch in ihrer kleinen Handtasche.
"Du bist nicht dumm. Du bist bloß verloren und weißt nicht, wohin mit dir", lege ich ihr zögerlich eine Hand auf die in Bodylotion getränkte und dadurch golden schimmernde Schulter. Mir ist schon als wir noch jünger waren aufgefallen, dass Carrie in solchen schweren Phasen mithilfe ihrer äußeren Schönheit zu übertünchen versucht, was Hässliches in ihrem Inneren vorgeht.
"Aber so sollte das nicht sein", presst sie aufgebracht hervor und leert ihre Clutch schwungvoll über der Konsole aus.
"Bei mir ist ebenso wenig alles perfekt wie bei dir. Wann ist es jemals, wie es sein sollte?", frage ich und meine Worte wabern im Raum über uns. Sie treffen auf mich wie auf Carrie zu, die nichts darauf erwidert. Sie sucht etwas.
Letztendlich schnappt sie sich eine Parfümprobe aus dem Sammelsurium des überflüssigen Schnickschnacks, schraubt den Deckel ab und stiebt etwas, das wie Mehl aussieht, auf die Granitoberfläche.
In meinem Kopf greifen die Zahnräder ineinander und viel zu spät macht es Klick. "Ist das Kokain?!", rufe ich schockiert.
Sie wendet sich ab. Ihre normalerweise weichen Gesichtszüge von Ingrimm verhärtet legt sie sich erstaunlich geübt mit ihrer Kreditkarte eine Line und rollt einen Fünf-Euroschein zusammen.
"Bist du wahnsinnig?!", schlage ich ihr das Ding aus der Hand. "Woher hast du das?! Hat Bastian dir das gegeben? War er es? Ich bringe ihn um!", fluche ich.
"Nein", schüttelt sie genervt den Kopf. "Es war dein Held: Stean." Sie spricht seinen Namen verächtlich aus und verleiht der Aussage etwas bissig Sarkastisches - sardonisch, hätte Aleks vermutlich gesagt.
"Bitte was?! Was ist denn los mit dem Jungen, will er mich völlig vergraulen?", murmele ich in Rage. Angefressen fotografiere ich das Kokain und schicke Stean das Bild. Darunter setze ich: Du stattest meine Schwester mit Koks aus? Hast du sie noch alle?!
"Iara, ich habe ihn darum gebeten", will sie ihn halbherzig in Schutz nehmen. "Außerdem ist es mein Leben."
"Carrie, du magst dich unglaublich schlecht fühlen, aber nur weil das Zeug dir vorgaukelt, du wärst die Siegerin bei allem was du anpackst, entspricht das noch lange nicht der Realität."
"Das ist der Punkt. Die Realität ist untragbar, diese Realität ist mir egal."
"Ich wäre fast gestorben, als ich gekokst habe und du sagst, diese Realität ist dir egal?!", meine ich schrill. Wenn ich echt bei Universal kündige und keinen Job finde, habe ich immer noch beste Aussichten als Feuermelder.
"Du hast gekokst?", legt sie die Stirn in Falten. Eigentlich hatte ich gehofft, Carrie wäre fassungsloser, also abgelenkter. Irgendwie muss ich das Koks aus ihrer Reichweite schaffen. Aber da ich keine andere Option sehe, werde ich es wohl ohne Ablenkung riskieren müssen.
"Ich hatte was mit Karate Andi, während Tua und ich getrennt waren", schießt meine Hand vorwärts, um das weiße Pulver in den Ausguss zu fegen. Leider fängt sie mich ab und in mir breitet sich langsam aber sicher Panik aus. Was ist das überhaupt für eine absurde Situation?! Meine Schwester will auf dem Klo koksen, während unsere Mutter nebenan ihre Hochzeit feiert. Das ist also die Art KKK-Aktion, die Carrie durchziehen würde. Bis heute habe ich nie verstanden, warum Bastian, der Asi, sich überhaupt jemals mit ihr abgegeben hat. Sie waren die zwei unterschiedlichsten Menschen, die ich in meinem Kreis hatte. Jetzt kapiere ich es endlich. Carrie hat Geheimnisse vor mir.
"Mit Andi? Wer bist du? Kenne ich dich überhaupt noch?", verschränkt sie beleidigt die Arme vor der Brust. "Wow, mir war immer klar, dass du früher oder später über Koks stolpern würdest, aber damit hätte ich nie gerechnet." Sie sieht förmlich auf mich herab. Und ihre Herablassung tut doller weh als ich erwartet habe. 'Tut doller weh'? Iara, bist du fünf, oder was?, spottet die Stimme in meinem Kopf.
"Ich dachte, du machst das eines Tages mit Timi. Und als Timi nicht mehr war, dachte ich, Bastian übernimmt irgendwann seinen Part."
"Ich bin in die Spree gefallen, ohne noch zu wissen, wie das mit dem Schwimmen funktioniert", angele ich nach der Gelassenheit, die mir seit meinem Gespräch mit Stean abhanden gekommen ist. Kein Wunder, hier geht es schließlich nicht um irgendwen, sondern um meine große Schwester. "Koks ist gefährlich", betone ich jedes einzelne Wort überdeutlich.
"Erzähl das deinen Freunden", lacht sie mich gemein aus und ich frage mich, ob sie heute vielleicht schon was von dem Zeug gesnifft hat.
"Nein, ich erzähle das dir, nicht meinen ohnehin kaputten Freunden, die sich vor einer halben Ewigkeit selbst aufgegeben haben!" In exakt diesem Moment bin so sauer auf jeden einzelnen von ihnen: Bastian, Tarik, Stean, Maurice, sogar Mika, und der konsumiert nur gelegentlich Schnee. Ich bin unendlich wütend auf jeden verdammten Kokser, der gleichzeitig mein Freund ist ... und meine Schwester beeinflusst hat, obwohl das ja nur auf drei von ihnen zutreffen kann.
"Ich habe mich wesentlich früher aufgegeben, mach dir da mal bloß nix vor", schaltet sie sich wieder besserwisserisch ein.
"Bitte, Carrie, bitte tu's nicht. Für den Moment hilft es dir vielleicht, aber was kommt danach?" Flehend nehme ich ihre Hand in meine.
"Der Entzug", sagt sie bitterkalt.
"Was?", hauche ich.
Sie entzieht sich mir wortlos.
"Oh mein Gott, bitte lass die Finger davon", halte ich sie zurück.
"Iara, lass mich in Ruhe!"
Völlig baff starre ich sie an. Carrie hat mich noch nie, nicht einmal in meinen fast zwanzig Jahren, die ich zum größten Teil mit ihr verbracht habe, angeschrien. Am liebsten würde ich wegrennen, aber wenn ich renne, zieht Carrie ihre Line und Mamas Hochzeit geht den Bach runter.
"Warum machst du das?", frage ich und kann nichts dagegen tun, dass mir schon wieder die Tränen kommen wollen. Meine Augen brennen höllisch und ich nehme die sich uns nähernden Schritte auf dem Gang kaum wahr.
Von allen meinen potentiellen Rettern erwische ich ausgerechnet Mikas Freundin, bei der ich überhaupt keine Ahnung habe, wie sie reagieren wird.
Kittys Blick fällt auf das Koks auf dem Waschtisch.
"Packt das ein und ich sage eurer Mutter nichts", flüstert sie drohend und verschwindet in einer der luxuriösen Klo-Kabinen. Ich glaube, ich schulde Kitty einen Goldesel oder etwas, das ihr vergleichbar wertvoll erscheint. Carrie rafft kopfschüttelnd ihren Kram samt der Drogen zusammen und verlässt die Toilette.
Meine Knie werden butterweich und geben nach, kaum, dass sie fort ist. Als Kitty zu mir kommt, lehne ich mich automatisch an sie und suche Trost. "Danke", krächze ich.
"Nichts zu danken. Du ähnelst deiner Schwester. Meine Schwestern und ich sind wie Tag und Nacht."
"Meinst du das charakterlich oder äußerlich?", schniefe ich.
"Beides", antwortet sie.
"Wirklich, Kitty, wärst du nicht gewesen -"
"Du bist Mika sehr wichtig", unterbricht sie mich. An meinem Gesichtsausdruck muss klar abzulesen sein, dass ich nicht den blassesten Schimmer habe, was das mit Mika zu tun haben soll.
"Und Mika ist mir sehr wichtig. Also sehe ich es als meine Pflicht an, dich zu beschützen, wie er es tun würde."
"Bitte, vorhin kam das alles ganz falsch rüber", setze ich mich auf und drehe mich zu ihr hin. "Ja, ich finde Mika attraktiv; ja, ich kenne ihn in- und auswendig; aber nein, ich würde nie etwas mit ihm anfangen. Weder nüchtern noch im Rausch. Er kam in meine Klasse, weil er sitzen geblieben war und wir haben eine Tandem-Aufgabe in Spanisch zugeteilt bekommen. Es hat ungefähr drei Sekunden gedauert, bis ich ihn sympathisch fand. Pari ging es wie mir. Ich habe sie einander auf meiner Geburtstagsparty vorgestellt. Wir sind quasi seit Anbeginn der Zeit befreundet. Romantik hat dabei nie eine Rolle gespielt. Weißt du, wie tief platonische Liebe gehen kann?"
"Ansatzweise", weicht sie aus.
"Du wirst es lernen. Von uns", beschließe ich voller Dankbarkeit.
Kitty lächelt, und die Welt sieht weniger schäbig aus als noch vor zwei Minuten.

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