Flaschendrehen

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Der Vorfall kommt den ganzen Abend lang kein zweites Mal zur Sprache. Mit Stean rede ich die nächsten Stunden kein Wort mehr. Als das Buffet eröffnet wird, begegnen wir uns kurz, sehen einander an und schauen weg, als könnten wir uns nicht ausstehen. Vielleicht stimmt das für den Moment sogar. Beide brodeln wir wie Vulkane, aber jetzt ist der falsche Zeitpunkt für einen Ausbruch. Er meidet den großen Tisch, der für ursprünglich ihn, uns Schwestern - Carrie und mich - sowie Pari, Mika und unsere jeweiligen Begleitungen reserviert ist. Die Feststellung, dass nur ich meine besten Freunde mitgebracht habe, ist wie ein Schlag in die Magengrube für mich.
Dass Tua mitkäme war klar, nachdem wir die Trennung überstanden haben. Bei Henry war es genauso unfraglich, dass er nicht von Carries Seite weichen würde, doch ich bin diejenige, die nicht allein ihren Partner bei sich hat. Marten ist nicht da und ich gehe im Kopf durch, wen von Carries Freunden ich außer ihm kenne. Mir fallen er und Aleks ein und da hört es plötzlich auf. Natürlich ist Stean nicht bloß wegen mir hier. Er kann mir erzählen, was er will, ich weiß, dass er Carrie mag. Sie ist nicht so eng wie ich mit ihm, aber sie sind Freunde, seit sie sich richtig kennengelernt haben.
Zwar ist Carrie älter als ich, aber Bastian meinte, sie benehme sich manchmal wie ein Kind. Das ist der Grund dafür, dass er mit ihr nie wirklich klarkam. Irgendwie hat er Recht damit und irgendwie nicht ... Um mich abzulenken, unterhalte ich mich mit Kitty.
"Du jobbst im Restaurant deiner Eltern und studierst nebenbei Modedesign?"
"Bist du Fashionbloggerin?", wirft Pari interessiert dazwischen.
"Nein, ich nehme Mode ernst", antwortet sie knallhart.
"Ich kann verstehen, warum du dich in Mika verschossen hast", sage ich. Ich weiß nicht, wie er es schafft, aber Mika sieht immer aus, wie der Typ, der von Trendsuchern auf der Straße für Modemagazine abgelichtet wird. Heute trägt er einen flaschengrünen Anzug, der seine Augenfarbe unterstreicht, kombiniert mit einem schwarz-weiß nadelgestreiften Einstecktuch und einer schmalen schwarzen Krawatte, die sich gegen das weiße Hemd darunter absetzt. Seine Haare fallen ihm wie immer weich die Stirn und seine Haut ist absolut rein. Die Wintersonne hat ihm einen Hauch Farbe verliehen. In Kombination mit der Kälte sind seine Wangen zu Pfirsichbäckchen geworden und auch auf seiner Nasenspitze hat sich ein zartes Orangerot niedergelassen.
"Dein Freund hat ebenfalls keinen schlechten Geschmack." Tuas Anzug steht ihm vortrefflich, das muss man ihm lassen, aber auch Tim ist nicht zu verachten. Er trägt eine Variante in beige, die ihn nicht zerknittert und alt wie meinen Großonkel Holger aussehen lässt, der sich für die gleiche Farbe entschieden hat. Tim ist der Sandstrand, Holger vertrocknetes Gras.
Tua bedankt sich für Kittys Kompliment.
"Alter, hast du 'ne Kippe für mich?", fragt Mika ihn.
"Klar, was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?"
"Schließ mich an", folgt Tim den beiden nach draußen.
"Ich wusste nicht, dass er raucht", starrt Kitty Mika konsterniert hinterher.
"Gelegentlich", erklärt Pari. "Ist das ein Problem für dich?"
"Nein, ich wusste, dass er gerne mal mit Drogen hantiert, aber ich wusste nicht, dass er ein Laster hat."
"Hat er nicht", erwidere ich. "Tua hat ein Laster, Mika nicht. Er hält es wie ich und geht ab und an mit den Jungs mit. Was ist mit Tim?", frage ich Pari.
"Nicht jeden Tag", antwortet sie.
"Tja, ich schätze mein Freund ist dann der, der an seiner Raucherlunge verrecken wird", zucke ich die Schultern.
"Iara, was du vorhin geschildert hast: Ist das Mikas Masche?"
Der abrupte Themenwechsel erwischt mich eiskalt. Herrje, da habe ich mir und möglicherweise Mika ja was Hübsches eingebrockt. Er ist einer meiner ältesten Freunde und er hat Kitty zur Hochzeit meiner Mutter eingeladen. Seine letzten Freundinnen haben weder Pari noch ich kennengelernt. Mit Kitty ist es ihm offensichtlich ernst, wenn er uns an sie heranlässt. Ich will ihm das auf keinen Fall verderben. Diese Aneinanderreihung willkürlicher romantischer Interaktionen, von denen ich mir ziemlich sicher bin, dass Mika sie ausgeführt hat, sollte Kitty nicht verunsichern, aber jetzt kristallisiert sich gerade ziemlich deutlich heraus, dass genau das passiert sein muss.
"Oh Mann, Kitty, tut mir leid, ich wollte nicht, dass dir das so im Kopf rumspukt", entschuldige ich mich. "Er hat keine Masche."
"Iara hat bloß die absolute Menschenkenntnis", grinst Pari. "Sie ist eine Art Hellseherin was Zwischenmenschliches angeht."
Meine Augen werden riesig. Aus Paris Mund höre ich das selten. De facto habe ich es noch nie aus ihrem Mund gehört.
"Glaubst du das wirklich? Dann würde ich mich doch nie mit meinen Freunden streiten", zögere ich.
"Ich habe nie behauptet, du wärst konfliktscheu." Pari nuckelt am Strohhalm ihres Erdbeer-Milchshakes und ich muss an Tuas Fantasie mit ihr denken. An den Erdbeergeruch auf ihrer hellen Haut. Ob er ihr im Austausch gegen ihr Geständnis davon erzählt hat? Und wie sieht ihr Traum mit ihm wohl aus?
"Man merkt es dir an", pflichtet Kitty ihr bei. "Also, dass du Ahnung von Menschen hast. Hast du mal darüber nachgedacht, Psychologin zu werden?"
"Psychologie war mein Lieblingskurs in der Oberstufe, ich hatte in allen vier Semestern fünfzehn Punkte. Aber ich mache eine Ausbildung in der Künstlerbetreuung bei Universal."
"Daher kennst du Tua?"
"Du kennst ihn?" Kitty erscheint mir immer rätselhafter. Es ist erfrischend jemanden zu treffen, der Überraschungen bereithält.
"Seine Musik hält mich am Leben", meint sie. "Ich glaube, er liebt dich unter anderem deshalb. Du kennst dich mit Menschen aus. Bei ihm ist es ähnlich."
"Tuas Songs sind eine ständige Selbstreflektion, er kennt sich vor allem mit sich selbst aus."
"Wie kann es dann sein, dass er mich so abholt damit, wenn ich doch nicht er bin?", kontert sie.
"Mich holt er auch ab", gebe ich kleinbei.
"Ihr habt viel gemeinsam, Iara", mischt Pari sich wieder ein. "Dir fällt das nicht auf und man kann es dir nicht verübeln, es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, aber auf den zweiten dafür umso deutlicher."
Okay, Pari ist meine beste Freundin und sie hat jedes Recht dazu, aber als ich noch in meiner ersten Beziehung steckte, hat sie nicht halb so viel von Harvey wie von Tua geschwärmt. Sie ist wunderschön, klein, aber dafür reizend vollbusig, mit ständig gesund leuchtender Alabasterhaut, ein paar niedlichen Sommersprossen um die Nase herum, warmen Kaminfeueraugen, denn in dem Braun ihrer Iris tummeln sich kupferfarbene Kürbissprenkel, dunklem, dickem Haar, in dem toffeefarbene, natürliche Strähnchen vibrieren und vollen, rosigen Lippen. Wenn ich zu wenig esse, dünner werde und die paar Gramm an ihr sehe, die ihre Rippen übertünchen und ihren Po rund und - ich kann es mit keinem anderen Wort besser ausdrücken - saftig machen, werde ich neidisch. Tua sieht das. Alle können es sehen.
Die Frage ist bloß: Was sieht Pari in Tua?
Toll, jetzt kriege ich die Fantasien nicht mehr aus dem Kopf. Aus der Sache komme ich nur mithilfe eines Tricks raus, der mir pure Direktheit erlaubt, ohne mich dafür entschuldigen zu müssen. Sei spontan, Iara, sei spontan - "Flaschendrehen!", fällt mir ein Spiel ein, das Pari und ich früher immer heimlich gespielt haben, wenn wir beieinander übernachteten und noch nicht schlafen wollten, obwohl unsere Eltern längst das Licht in unseren Zimmern ausgeknipst hatten. "Die Version der Perversion", füge ich hinzu, schnappe mir die leere Wasserpulle und drehe sie.
Sie hält bei Pari an. Jackpot.
"Hattest du mal einen Sextraum mit einer Person des gleichen Geschlechts?", beginne ich langsam.
"Ähm, spielen wir das jetzt echt?", fragt sie zurück und ich nicke eifrig. Das war schließlich erst der Anfang. "Nein, aber mit euch würde ich's treiben", zuckt sie die Schultern. Sie dreht weiter. Kitty guckt sie erschrocken an, als der Deckel auf sie zeigt.
"Wie viele gab es vor Mika?"
"Feste Freunde? Drei", sieht sie uns scheu an. "Bei euch?"
"Ich bin Single", lacht Pari, hält jedoch zwei Finger hoch.
"Einer", murmele ich.
"Oh, du bist ja 'ne treue Seele", nimmt Kitty einen Schluck von ihrem Roséwein.
Sie dreht, die Flasche zeigt auf mich. "Findest du Mika attraktiv?"
"Ja." Es ist vielleicht ein bisschen gemein, dass nicht mit einem weiteren Kommentar zu versehen, aber es gibt da etwas, dass ich dringend wissen muss.
Pari ist dran.
"Bitte sei nicht sauer auf ihn, aber Tua hat es mir erzählt. Wovon handelt dein Traum mit ihm?"
Meine beste Freundin wird rot wie Carries Bloody Mary, die einsam an ihrem Platz steht. Meine Schwester und Henry unterhalten sich mit Vovo und Papa.
"Ich bringe ihn um", schüttelt sie den Kopf. "Es war in der Partyvilla. Erst unter dem Sternenhimmel in der Hängematte, dann in Bastians Whirpool, nass in seinem Bett, dem größten, du weißt, welches ich meine, und schlussendlich auf dem Glastisch im Esszimmer."
"Genauer?", bitte ich sie.
"Lass mich wenigstens Kitty verschonen."
"Ich bin sehr interessiert." Wenn es nicht um sie geht, ist sie voll dabei.
Pari seufzt. "Petting, fingern, Sex, oral", zählt sie leise auf und ich muss lächeln. "War doch gar nicht so schwer, oder?", lehne ich mich zufrieden zurück. Wenigstens sind die Fronten zwischen uns jetzt geklärt.
"Nicht schwer, aber schmutzig", steigt Kitty ein und die Anspannung fällt schleichend von Pari ab.
"Du wurdest soeben in ein Beste-Freundinnen-Ding eingeweiht. Behalt es für dich und willkommen im Club", grinse ich Kitty an.
Mir tippt jemand auf die Schulter. Ich rieche sein Parfüm und es genügt, um mir zu verraten, um wen es sich handelt. "Dein Vater hat sich bei mir entschuldigt. Können wir kurz reden?"
"Klar, komm", greife ich nach seiner Hand.

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