Lass uns verreisen, dahin, wo Sorgen verschwinden

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"Wir sollten verreisen."
"Wir? Du und ich? Wohin denn? Und wann? Mit wessen Zeit?"
"Na, mit unserer Zeit. Ja, du und ich. Lass uns ans Meer fahren."
"Und du sorgst dafür, dass ich außerplanmäßig Urlaub bekomme?"
"Nicht ich, aber Tarik kann da bestimmt was drehen, damit wir eine Woche weg können. Er wird dich decken."
"Super", rolle ich mit den Augen. "Ich riskiere meinen Job, um mit dir ans Meer zu fahren."
"Genauso seh ich das", grinst er.
Er ist überzeugt von sich und seine Selbstsicherheit steckt mich leicht an.
"Und wenn wir auffliegen, Tua? Dann bin ich meinen Ausbildungsplatz los", überlege ich.
"In knapp anderthalb Jahren bist du sowieso fertig mit der Ausbildung. Ob du bei Universal am Ende einsteigst, ist doch egal. Der Stress bringt dich um, der Konzern ist gar nicht gut für dich, ohnehin nicht. Was hält dich also davon ab?"
Irgendwo hat er natürlich Recht. Erstens rechne ich nicht länger damit, übernommen zu werden, und zweitens, möchte ich nicht mehr übernommen werden. Mein Herzblut ist in die Sache geflossen, trotzdem habe ich nie etwas erreicht. Irgendwann bildet sich doch immer der Schorf auf der Wunde und je früher, desto besser.
"Du hast Recht", ziehe ich ihn zu mir.
"Dann abgemacht?"
"Abgemacht", lache ich und schlage ein.
Kaum zwei Sekunden später küsst er mich lange und gefühlvoll und es fühlt sich gut an und ich wünsche mir, er würde mich öfter küssen wie jetzt.
Nachdem er sich von mir löst, schaut er mich schweigend an. Vollkommen ruhig liege ich unter ihm, außer unseren Atemzügen ist nichts zu hören.
"Deine Augen sind hypnotisierend", flüstert er.
Lächelnd erzähle ich: "Weißt du eigentlich, dass ich nach der brasilianischen Wassergöttin Iara benannt bin, von der heißt es, sie hätte die schönsten grünen Augen, in denen sich jeder verlieren würde?"
"Woher sollte ich das wissen? Sag mir das. Damit kann man vor anderen angeben." Seine Fingerspitzen zeichnen verschnörkelte Muster auf meinen Bauch.
"Vor wem willst du damit angeben?", frage ich neugierig.
"Vor meinen Jungs natürlich. Die solltest du übrigens mal kennenlernen, die Fragen zu dir häufen sich langsam."
"Und ich dachte schon, du hättest keine Freunde außer Jenn", necke ich ihn.
"Dünnes Eis, Fräulein", warnt er mich, aber ich besänftige ihn mit einem Kuss. "Von mir aus gern", sage ich.

"An welches Meer willst du?", erkundige ich mich später, weil mir Gedanke weiter im Kopf rumspukt. Meine Vorfreude ist geweckt.
"An die Ostsee, Usedom. Dort gibt es Bungalows, die hätten wir um die Jahreszeit ganz für uns allein. Ein paarmal war ich da. In der Gegend kann man richtig abschalten", antwortet er, während er mit meinen Haaren spielt und fast gleichzeitig an meinem Ohrläppchen knabbert.
"Sollten wir nicht lieber schlafen?", kichere ich.
"Es ist Wochenende", winkt er ab und drückt mich an den Schultern leicht ins Kissen, als er auf mich klettert wie vorhin.
"Du bist schwer", quengele ich und winde mich unter ihm hervor, um mich stattdessen selbst auf ihn zu legen.
"Hey", meint er beleidigt und kneift mich.
Nonverbal kommunizierend strecke ich ihm die Zunge raus. "Was machen wir an der Ostsee?", nerve ich ihn weiter.
"Du bist ein Quälgeist, Iara", seufzt er. "Wir werden am Strand spazieren gehen, zusammen kochen, fürchterlich viel Sex haben ..." Er zupft an meinem/seinem T-Shirt, dass ich zum Essen übergezogen habe, weil mir kalt wurde.
Ich tue ihm den Gefallen und ziehe es wieder aus. "Was meinst du, wie werden die anderen das finden? Dass wir wieder zusammen sind."
"Die anderen sind unwichtig."
"Was denkst du? Wie werden sie's finden?", lege ich mir den Zeigefinger auf den Mund, sodass er mich nicht küssen kann.
"Bescheuert von mir. Du hast mir mehr wehgetan als jede vor dir, sogar mehr als Mascha an Weihnachten. Und dumm von dir. Du kennst mich, ich bin anstrengend."
"Nicht anstrengender als ich."
"Glaubst du? Du hast meine schlimmsten Tiefphasen noch nicht erlebt."
"Wenn du mir sagen willst, dass das keine deiner schlimmsten Tiefphasen war, als dein Opa gestorben ist, dann ohrfeige ich dich und verlasse dich auf der Stelle", erwidere ich strikt.
"Schlimmer geht immer", wendet er den Blick ab.
"Das wird dich an eine Menge erinnert haben, ich konnte es spüren. Reutlingen hat dir an sich nicht gut getan damals. Mir auch nicht. Uns nicht, aber das haben wir durch. Damit sind wir fertig." Müde zeichne ich Formen auf seinen linken Oberarm.
"Mit Depressionen ist man nie fertig."
Das ist das erste Mal, dass er völlig offen eine Krankheit zugibt. Dementsprechend verwundert mustere ich ihn.
Tua fährt meine Konturen nach und lässt sich davon nicht beeindrucken.
"Wird der Umgang mit ihnen irgendwann leichter?", will ich wissen und male Kreise auf seinen Brustkorb.
"Nicht richtig. Man kann sich selbst zwingen, dass die Abstände dazwischen größer werden."
"Wie?"
"Das ist ein langes Gesprächsthema, willst du das jetzt wirklich durchkauen?"
"Wann, wenn nicht jetzt? Wir haben vorher nie darüber gesprochen und heute haben wir gefühlt schon über alles geredet."
Also legt Tua mir ausführlich dar, wie seine Depressionen vonstatten gehen und ich erkenne viele Verhaltensmuster, die ich mal an ihm gesehen habe, aber noch nicht zuordnen konnte. Sich die Birne wegkiffen, übermäßige Aggression und Gereiztheit, die hate everyone and everything Einstellung und vor allem Schweigsamkeit und sich im Studio verkriechen sind Hauptsymptome, an denen ich ablesen kann, dass es ihm schlecht geht.
"Und das ist es, ganz grob erklärt", schließt er.
"Dir geht's in diesem speziellen Moment richtig gut, hm?", lächele ich und küsse seinen Adamsapfel.
"Ja, stimmt", rollt er sich seitlich, sodass wir nebeneinander liegen.
"Willst du ...?" Er streicht mit dem Daumen über seine Unterlippe und ich nicke bloß und er fördert automatisch puren Genuss zutage.

"Können wir die nächsten Tage bitte aufeinander hängen?", murmele ich ins Kissen, das nach ihm riecht, während er sich gerade die Haare abtrocknet, als er vom Duschen zurückkehrt.
"Bis zur Hochzeit deiner Mutter sollte das machbar sein", meint er und küsst mich auf die Stirn. Er zieht ein Oberteil und frische Boxershorts aus seinem Schrank und zieht beides an.
"Okay", nuschele ich und ziehe mir die Decke bis unter die Nasenspitze.
"Schlaf schön, Iara", ist das Letzte, das ich von ihm höre und das sanfte Streicheln meiner Haare ist die letzte Berührung, die ich spüre.

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