Meine innere Mitte ist ein Schrottplatz

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Beim Anblick all der Menschen in dem Saal, in dem sich die Feierlichkeiten abspielen, wird mir übel. Kitty wollte ein weiteres Mal zum Buffet. Mir wird schon bei der bloßen Vorstellung etwas zu essen doppelt schlecht. Ich bestelle mir zwei Shots an der Bar, die ich schnell wegkippe, damit es niemand bemerkt - abgesehen von meinem Freund mit den Adleraugen. Tua schüttelt stumm den Kopf, während er mir, mich quer durch den Raum besorgt taxierend, in die Augen schaut. Was kümmert es mich? Für mich sind die Hochzeitsgäste relevanter. 
Wie gut kennen diese Leute sich untereinander überhaupt? Wie gut kennen sie mich und wie gut kenne ich sie? Sie sind in dieser Hinsicht, auf ihre inneren Beweggründe fokussiert, alle Fremde, wo ja sogar meine Schwester vor mir verbergen kann, was sie mich nicht sehen lassen möchte. Carrie und ich waren uns mal so nah.
"Halt dich zurück mit den harten Sachen, du musst heute noch eine Rede halten", rät Tua mir. "Ist alles okay mit Carrie?" Er tritt als Erster an mich heran, gefolgt von Pari und Mika. Statt zu antworten, falle ich in seine Arme und vergrabe mein Gesicht an seiner Brust. 
"Iara, nicht!", will Pari mich aufhalten. "Er hat ein weißes Hemd an, dein Make Up färbt es noch ein." 
Doch mein Freund schirmt mich vor ihr ab. "Lass gut sein, der Anzug ist egal", meint er, während er mir beruhigend über den Rücken streicht. 
"Wir gehen kurz raus, okay?", entschuldige ich mich bei meinen ältesten Freunden.
Draußen, in einem uneinsehbaren Winkel der Terrasse beschränke ich mich darauf, Tua zu küssen. Er lässt es eine Weile zu, bis er mich schließlich doch zurückhält; mich gegen die Wand presst, damit ich trotzdem den Kontakt spüre, den ich brauche, um überhaupt zu reden.
"Ich mache mir so viele Sorgen wie noch nie um Carrie", beichte ich schließlich. "Ich fürchte, sie hat ein Drogenproblem. Und ich fürchte, dass es von Stean und Bastian ausgelöst und unterstützt wurde."
"Du traust Bastian und Stean das zu? Stean ist dein bester Freund. Er würde Carrie nie predigen, Drogen wären der einzige Ausweg aus ihrer misslichen Lage."
"Stean unterhält sich trotzdem mit jedermann über seine Konsumgewohnheiten und seine Motive sind nicht das, was man löblich nennen würde. Ich kenne seine Einstellung zu Drogen seit mehreren Jahren und er macht keinen Hehl daraus, dass er dem Scheiß nicht abgeneigt ist."
"Wer von uns ist den Drogen bitte nicht zugeneigt? Wir kiffen alle, der Großteil von uns trinkt bis zum Umfallen, irgendwer kann dir immer Speed spendieren auf unseren Partys und es werden Teile geschmissen. Du halst dir viel zu viel auf damit, wenn du auf alle aufpassen willst. Du musst das Vertrauen in deine Freunde wiederfinden, wo ist das denn auf einmal hinverschwunden? Tarik treibt es manchmal zu weit, Bastian auch, aber sie sind erwachsen."
"Und ich bin das nicht oder was?", murre ich.
"Was zickst du jetzt rum, Iara?", fragt er und stützt sich an der Wand hinter mir ab, sodass plötzlich ein halber Meter zwischen unseren Körpern liegt. Aber ich brauche doch seine Liebe. 
"Ich bin genauso erwachsen wie die, und weil ich die Perspektive von außen vertrete, kann ich objektiver beurteilen, wann es genug ist", fahre ich instinktiv die Krallen aus.
"Du vertrittst deine eigene, subjektive Perspektive. Wann bist du das letzte Mal auf jemanden zugegangen wie ich heute auf dich zugegangen bin, als ich dich gebeten habe, die Finger vom Alkohol zu lassen? Glaubst du echt, ihre Reaktion darauf wäre anders ausgefallen als deine eigene vorhin?"
"Was willst du mir damit sagen, Tua?", unterbreche ich seinen Redefluss. 
"Sie müssen an ihrer Selbstbeherrschung arbeiten und du kannst ihnen dabei helfen, aber es ist nun mal ein langer Weg bis dahin, der verbunden ist mit etlichen psychologischen Gesprächen. Du würdest das auf dich nehmen, du versuchst es ja seit Jahren und ich liebe dich unter anderem, weil du so empathisch bist; aber du vergisst deine eigene Gesundheit, wenn du immer allen anderen unter die Arme greifen willst. Die Konsequenzen davon sind weder für dich noch für deine Freunde positiv. Wenn ich dir gleich sage, was ich denke, dann sei nicht sauer, aber ..." Er atmet ein. "Deine akuten Essstörungen werden sich zu einer chronischen auswachsen, wenn du weiter deinen Messias-Lifestyle durchziehst."
Automatisch begebe ich mich in die Abwehrhaltung. "Es ging um meine Schwester", hebe ich überdeutlich hervor. 
"Was interessiert mich deine Schwester?! Carrie ist nicht in einer Beziehung mit mir!", wird er laut. Ich kann seinen Schmerz fast physisch spüren, aber ich kann mein Mundwerk nicht zügeln. 
"Tua, hier geht es nicht um mich, geschweige denn um dich! Du hast das Thema auf etwas völlig anderes gelenkt, hast du überhaupt versucht mir zuzuhören?!", passe ich mich an seinen rauen Ton an. 
"Natürlich habe ich dir zugehört. Ich mache mir einfach Sorgen, weil Carries Zustand bei dir zusätzlichen Stress verursacht und du so knapp vor einem Burnout stehst", erklärt er, wobei er mir mit den Fingern eine winzige Spanne zeigt. 
"Ja, und weißt du warum?! Weil ihr mich alle dauernd darauf hinweist! Iara, tu dies; Iara, tu das, aber übernimm dich bloß nicht, sonst endet es noch in einem Nervenzusammenbruch", imitiere ich das Echo ihrer Stimmen. 
"Niemand von deinen Freunden sagt sowas, Iara! Du verwechselst Universal mit deinem Privatleben, soweit bist du schon, merkst du das denn gar nicht? Keiner erteilt dir Befehle außerhalb deiner Arbeitszeiten, aber woher sollst du das auch wissen, du arbeitest ja eh immer, nicht wahr? Du arbeitest, wenn du nach Hause kommst und Bastian dir schreibt, dass ihr kein Brot mehr habt und dich auf seine grantige Art bittet, auf dem Heimweg noch rasch beim Supermarkt vorbeizuschauen, obwohl du eigentlich schon auf dem Treppenabsatz stehst; wenn du deine privaten Mails abarbeitest, dir deine Agenda mit Aufgaben für den nächsten Tag in den Kalender einträgst; wenn ich dann vorbeikomme, um sicherzustellen, dass du zu Abend isst und mich in deiner Aufmerksamkeit suhlen will; wenn Tarik anruft und fragt, ob du noch im Bunker vorbeischaust, weil ihr seit Ewigkeiten nicht mehr normal miteinander gequatscht habt, was du ablehnst, weil du schon mit Mika und Pari verabredet bist; wenn dann noch später Stean anruft, mitten in der Nacht, um dir zu erzählen, was die Woche bei ihm los war und erwartet, dass du ihm deine Zeit schenkst und er schmollt, wenn du nach zehn Minuten auflegen willst, weil du zu müde bist. Am nächsten Tag ist es das gleiche, tausch die Namen beliebig gegeneinander aus."
Meine Kehle ist nach diesem Vortrag wie zugeschnürt. Tua hat gerade aufgedeckt, was sich in mir abspielt und was ich nie aussprechen könnte, weil es zu sehr wehtut. Beziehungsweise spricht er aus, worüber ich keine Zeit habe, mir Gedanken zu machen. Er hat sich stattdessen Gedanken gemacht.

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now