Starring Role

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"Mama, Thoralf", fängt Carrie an. Nichts gibt ein natürlicheres Bild ab als meine große Schwester mit einem Mikrofon in der Hand. Wenn sie im Scheinwerferlicht steht, wenn ihre Stimme eine Rolle spielt, ist sie in ihrem Element. Sie hat dabei nichts Einnehmendes an sich. Das verblüfft mich nicht, schließlich ist es ihr Job, sich im Hintergrund zu halten, wenn sie mit ihrem besten Freund auf der Bühne steht und ihm ihren wunderschönen, trainierten Gesang leiht.

"Iara und ich möchten eine Rede zu euren Ehren halten", fährt meine Schwester fort und ich löse meinen festklebenden Blick von ihrer einmaligen Gestalt. Stattdessen halte ich in unserem Publikum nach zwei speziellen Kandidaten Ausschau. In den vorderen Reihen entdecke ich Henry, neben dem Stean Platz genommen hat. Die Bewunderung für Carrie steht beiden Jungs ins Gesicht geschrieben. Stean hat meine Schwester zwar aufgegeben, aber ich zweifle plötzlich daran, ob er es ehrlich, wie er ständig behauptet, kein bisschen bereut, sie gehen gelassen zu haben. Aus Henrys Miene kann hingegen jeder problemlos ablesen, welche tiefreichende, bedingungslose Liebe er für seine feste Freundin empfindet. Hat Carrie ihm je erzählt, dass der Mann, neben dem er gerade sitzt, ihr Ex-Freund ist?
Doch die Zeit rennt. Ich hebe mein eigenes Mikrofon zum Mund und beginne vorzutragen, was Carrie und ich uns zusammen ausgedacht haben. "Ihr hattet es nicht leicht. Das wollen wir an erster Stelle mal festhalten. Mama, du hast es nie geschafft, die Männer in deinem Leben vor Carrie und mir geheimzuhalten." Unsere Mutter lacht mit vor Scham geröteten Wangen. "Manchmal kamst du um elf Uhr abends heim, in hohen Schuhen und mit zerzausten Haaren. Da sollte ich immer schon längst im Bett liegen und schlafen, aber in Wirklichkeit haben wir deine Horrofilmsammlung durchstöbert und ich tat nur so, als wäre ich bei deiner Ankunft zufällig auf dem Weg zum Klo gewesen." Die Gäste lachen, während meine Mutter entrüstet die Hände in die Hüften stemmt.
"Du hast es geahnt, tu nicht so empört!", ermahnt Carrie sie grinsend. "Das war genauso unverantwortlich, wie dein erzieherischer Umgang mit mir. Klar musste ich am nächsten Tag immer in die Schule, aber du hast mich nie sofort schlafen geschickt. Du hast mir in allen Einzelheiten ausführlich von deinen Dates berichtet. Wir saßen auf der Couch mit unseren dampfenden Teetassen und du hast mir dein Leid geklagt. Dass wir beide früh aufstehen mussten am nächsten Morgen hat keine von uns in diesem Moment gestört. Jedenfalls, Mama hatte viele echt schreckliche Dates. Ich erinnere mich an Sexistenschweine, Schleimbolzen und prahlerische Bonzen. Thoralf ist übrigens genau gar nichts davon."
"Ich zitiere Tarik, meinen besten Freund, den ich im Schlepptau hatte, als Carrie und ich deinen Mann zum ersten Mal trafen: Der ist scheiße nett", greife ich den Faden wieder auf und entlocke besonders denen, die Tarik kennen einen herzhaften Lacher. "Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. Tarik ist ein weiser Mensch. Und ähnlich wie du, Mama, stets instinktiv wusstest, wer unsere Herzen erobern würde, bevor wir es selbst wussten, wussten wir, dass du in Thoralf den Mann gefunden hattest, mit dem du den Rest deines noch jungen Lebens verbringen würdest. Du musstest deine Erfahrungen sammeln. Nun weißt du es heute mit unstreitbarer Gewissheit: Irgendwann ist die Suche nach der einen, ganz besonderen Person beendet; irgendwann hat man den Richtigen gefunden."
"Wir werden nie aufhören von dir zu lernen, Mama", verspricht Carrie.
"Wir haben uns deine Erkenntnis brav eingeprägt", bekräftige ich das Versprechen meiner Schwester.
"Denn du bist und bleibst für uns die schönste, klügste, großherzigste und bezauberndste Frau der Welt."
"Deswegen können wir dich mittlerweile an Thoralf abtreten; weil wir wissen, dass du all das ebenso für ihn verkörperst. Wir teilen Mama mit niemandem, Thoralf, hörst du?!"
"Ich habe überhaupt nicht vor, sie mit jemandem außer euch zu teilen", versichert er uns.
"Na, dann ist ja gut", faltet Carrie ihren Zettel zusammen. Es folgt eine herzliche Umarmung, in der ich die Hoffnung schöpfe, dass ich meine Familie vielleicht bloß aus den Augen verloren habe, seit ich ausgezogen bin. Aber ich habe sie keineswegs verloren. Nicht einmal meine große Schwester.
"Danke für euren lieben Worte!", strahlt meine Mutter.
"Gern geschehen", beteuere ich.

Gegen Mitternacht, nachdem sich alle die Bäuche mit der vierstöckigen Hochzeitstorte vollgeschlagen haben, sitze ich auf Tuas Schoß, während er Klavier spielt. Viele sind bereits auf ihre Zimmer verschwunden und da die Disko nebenan abgeht, sind wir einigermaßen ungestört. Thoralf dachte, der Flügel sei nur Deko, doch Mama widersprach ihm. Tatsächlich ist das majestätische Instrument funktionstüchtig. Vom Tanzen mit Mika und Pari bin ich müde geworden, sodass ich meinem Freund seit ein paar Minuten hier Gesellschaft leiste. Er spielt auf meinen Wunsch hin eine seiner neusten Kompositionen, an der er noch feilt. Ich bemerke Carrie erst, als sie unmittelbar neben uns auftaucht.
"Schön", lächelt sie Tua an. Er bedankt sich höflich.
"Darf ich?", erkundigt sie sich zögerlich.
"Ja!". meine ich überschwänglich. Seit Carrie ausgezogen ist, also seit fünf Jahren, habe ich sie nicht mehr Klavier spielen hören, dabei ist sie eine begnadete Pianistin. Rasch springe ich auf, Tua folgt meinem Beispiel. Als Carrie sich setzt, entdecke ich Stean hinter der Glastür, die zur Terrasse führt. Aufgeregt winke ich ihn herein. Er nähert sich leise und lauscht dann wie wir dem Song, den Carrie aus dem Kopf in Tastenanschläge übersetzt. Sie klingt fast wie Marina, die eigentliche Sängerin, als der Text von Starring Role über ihre Lippen fließt.
Stean verschwindet jedoch, ehe meine Schwester sich zu uns umdreht. Wahrscheinlich legt er endlich Emily flach, dafür bot sich den ganzen Tag kaum die passende Gelegenheit. Mein Gefühl sagt mir, dass er gerade gut auf mich verzichten kann. Also unterhalte ich mich mit Carrie und Tua, bis mir immer wieder die Augen zufallen.
"Iara, ich gehe rüber ins Hotel", rüttelt Tua vorsichtig an meiner Schulter, als ich zum dritten Mal einnicke.
"Schlafen gehen ist keine schlechte Idee", pflichtet Carrie ihm gähnend bei.

"Unten in der Lobby gibt es einen Raucherbereich", flüstert mein Freund mir ins Ohr. Ich liege auf dem Bauch im Bett, bloß mit einem von Carries alten T-Shirts und meinem Slip bekleidet, halb eingewickelt in die weiche Daunendecke. "In fünf Minuten bin ich zurück", verabschiedet er sich von mir mit einem sanften Kuss.
Allerdings braucht er nur drei Minuten. "Das war ein kurzer Ausflug", nuschle ich ins Kissen.
"Ich war nicht unten, ich habe Tim zu seinem Zimmer gebracht."
"Wieso das?", frage ich desinteressiert.
"Er tat mir leid, immerhin saß er nur in Boxershorts und mit seinen restlichen Klamotten neben sich vor Paris verschlossener Zimmertür."
"Was?!", fahre ich aus meinem dösigen Zustand wieder in den normalen Betrieb hoch.
"Er hat wirres Zeug gelabert, weil er ziemlich betrunken war. Könnte sein, dass sie Sex hatten, sah zumindest danach aus."
"Aber Pari setzt doch niemanden danach vor die Tür." Ich wühle in meinem Koffer nach einer Jeans.
"Was tust du?", fragt er halb überrascht, halb belustigt, während er sich die Hände wäscht.
"Ich gehe Pari fragen, was los war."
"Lass das lieber, die hatten beide ordentlich was intus. Sie brauchen eine Mütze Schlaf. Mindestens so dringend wie du", drängt er mich zurück ins Bett.
"Aber -"
"Iara", setzt er mir einen Finger auf die Lippen. "Sag es ihnen nicht. Sie werden sich morgen nicht erinnern können. Du willst ihnen doch nicht den niedlichen, unschuldigen Teil des Kennenlernens kaputt machen, oder?"
"Nein", gebe ich zu und falle auf die Matratze.
"Dann vergiss die Geschichte und lass uns pennen", nimmt er mich in den Arm und löscht das Licht.
"Tua?"
"Hm?"
"Ich liebe dich."
"Ich liebe dich auch", grinst er in die Dunkelheit hinein.

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now