Die Kleider ihrer Träume

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Carrie hatte mir gefehlt. Ich hatte sie unendlich vermisst, wie Stean, nur hatte ich es bei ihr noch weniger realisiert. Komisch, wenn man bedachte, dass sie meine Schwester war. In meiner Erinnerung rief ich mir den Festivalsommer vor Augen, in dem wir uns eigentlich auch mehr begegnet waren, als dass wir ihn wirklich miteinander verbracht hätten. Warum war das so? Waren wir stark unterschiedlich? Nein. Ein glasklares Nein sogar, wir waren aus dem selben Holz geschnitzt. Bis vor ein paar Jahren war sie der mir vertrauteste Mensch gewesen, mindestens auf einer Stufe mit Stean, wenn nicht darüber.

"Grübel nicht vor dich hin, Spatz", lächelt meine Schwester mich freundlich an.
"Carrie und ich haben gestern schon gerätselt, während wir geschrieben haben", meint Stean. "Ihr seid seit deinem Auszug auseinandergedriftet. Du bist keine beständige Person, Iara. Nicht mal mit deiner Mutter telefonierst du regelmäßig. Daran liegt es. Neues ist interessant für dich und lässt dich schnell Altes vernachlässigen."
"Aber bei Menschen?", schaue ich ihn aus großen Augen an.
"Besonders bei Menschen", nickt Carrie.
"Keine Sorge, es geht nicht darum, dass bei dir Langeweile aufkommen würde, wenn du dich immer mit den gleichen Leuten umgibst. Im Gegenteil, bist du mit jemandem zusammen, dann bist du hundertprozentig bei ihm und bei keinem anderen", erklärt Stean.
"Was er dir klarmachen möchte ist: Der Reiz des Neuen hat dich gefressen mit Haut und Haaren. Du lernst gerne andere kennen. Das würde ich dir nie vorwerfen, es ist eben eine deiner Eigenschaften. Nur denk ab und an mal an Mama und mich. Wir lieben dich, Iara."
"Ich euch auch", sage ich, weil ich merke, dass ich es nicht oft genug sage.

"Okay", verwuschelt Stean meine Frisur.
Verärgert knurre ich an, werde allerding von der aufschwingenden Flügeltür abgelenkt, die Carrie für uns öffnet.
"Ist es nicht toll hier?", träumt meine Schwester breits vor sich hin und dreht ein paar Pirouetten im Brautmodengeschäft auf dem Ku'damm, das wir gerade betreten haben.
"Total toll", hauche ich. Elegante Kleider und Anzüge baumeln von den penibel geordneten Bügeln. Der Raum ist ein ehemaliger Ballsaal aus Jugendstilzeiten oder imitiert zumindest den Stil.
"Liebsennt?", piepst eine Mitarbeiterin hinter uns, die Carrie in Sachen Größe noch unterbietet und damit sogar Pari das Wasser reichen kann. Ihre schwarzen, dicken Haare sind auf ihrem eckigen Kopf zu einen aufwändigen Dutt drapiert. Alles in allem sieht sie gepflegt und adrett aus.
"Mein Name ist Nilam, ich werde Sie bei der Auswahl Ihrer Abendgarderobe betreuen", grinst sie uns breit an, als könnte sie sich nix Schöneres als das vorstellen.
Vorsichtig zupfe ich an Steans T-Shirt. Er versteht den Wink und beugt sich sofort zu mir herunter. "Hast du das arrangiert?", flüstere ich ihm zu, aber er zuckt bloß die Achseln. Ratlos diesmal.
"Schön, dass das geklappt hat", reicht Carrie der Verkäuferin die Hand und es folgt ein deutsch-formelles Begrüßungsritual, obwohl Nilam unverkennbar türkischer Abstammung ist.
"Dann wollen wir doch mal. Möchten Sie die Damen mit mir beraten oder soll ich Ihnen meinen Mann herschicken?"
"Ich?", zeigt Stean verwirrt auf sich. "Oh, nein, ich gehe gar nicht zur Hochzeit ihrer Mutter."
"Gehst du", zwinkert Carrie ihm zu. "Du hast auf der Nachrückliste ganz oben gestanden und Mama hat mir geschrieben, dass unsere Großtante Selma nach ihrer Hüft-OP eher nicht auftauchen wird. Ergo gehst du zur Hochzeit. Die offizielle Einladung vergammelt vermutlich in diesem Moment in deinem braunschweiger Briefkasten."
Stean starrt sie erstaunt an.
"Yay?", schmeiße ich fragend in die Runde.
"Yay!", jubelt Carrie mit beiden Fäusten in der Luft und er lässt sich davon anstecken.
"Natürlich werde ich den Ladies mit Rat und Tat zur Seite stehen", legt er uns seine Arme um die Schultern.

Wir machen uns also auf ins obere Stockwerk, wo die Kleider noch hübscher werden und die Materialien noch hochwertiger.
"Sag mal, Carrie, was soll denn das kosten?", knirsche ich verunsichert mit den Zähnen. Wenn ich bald bei Bastian ausziehen möchte, sollte ich mein Geld beisammenhalten. Zurzeit lebe ich schuldenfrei, dass soll auch so bleiben. Mehr als eine schwarze Null ist es trotzdem nicht.
"Mama möchte, dass wir uns unsere Traumkleider aussuchen. Die Kosten übernimmt sie", antwortet meine Schwester. Ihr ist anzusehen, dass sie mich stumm auffordert, kein unglaublich hohes Budget zu sprengen.
"Nein, ich übernehme die Kosten", interveniert Stean in einem Ton, der keine Widerrede zulässt. "Wenigstens zum Teil. Ursprünglich gehöre ich nicht auf die Hochzeit. Dass ich trotzdem eingeladen wurde, das ist nett von eurer Mutter."
"Sie mag dich", wehren Carrie und ich im Chor ab. Kurz darauf müssen wir alle lachen.
"Ernsthaft, Mädels", beruhigt Stean sich als Erster. Carrie reicht ihm ihr Handy. "Sprich selbst mit ihr." Ungeduldig zieht sie mich rüber zu Nilam und wir lassen unsere Blicke über die wundervollen Designerschöpfungen wandern.
Wenig später haben wir uns einige Modelle ausgewählt, die wir anprobieren möchten. Nilam unterstützt uns dabei, während Stean, der inzwischen alles mit Mama geklärt hat, vor der Umkleide auf uns wartet.

Meine erste Wahl fiel auf ein rotes, schlichteres Kleid, das bis zu den Knien reicht.
"Zu business-mäßig", schüttelt mein bester Freund den Kopf und Carrie pflichtet ihm bei. Auch sie verwirft ihre originelle Idee des Hosenanzugs wieder, nachdem sie ihn anprobiert hat.
"Du hast Kurven ohne Ende und willst sie in einen Hosenanzug pressen?", kritisiert Stean sie direkt, als sie aus ihrer Kabine heraustritt.
"Schließlich bin ich mit meinem Freund auf der Hochzeit", streckt sie ihm beleidigt die Zunge raus.
"Deswegen ja, der würde denken, er wäre in falschen Film. Solche Gelegenheiten wie Hochzeiten muss man als Frau nutzen, um ein modisches Statement zu setzen!"
"Bist du nicht zufällig vielleicht doch schwul?", überlegt sie.
"Leider nein, tut mir leid, ich muss dir weiter auf die Nerven fallen mit meinen Komplimenten zu deiner Weiblichkeit", lehnt er sich desinteressiert zurück.
Die Augen verdrehend, ziehe ich den Vorhang der Umkleide zu und schlüpfe ins nächste Kleid. Dunkelblau, mit Spitzeneinsätzen und zarten Feenärmelchen.
"Niedlich", kommentiert Stean.
"Ein bisschen sehr Mädchen", fügt Carrie hinzu. Und sie hat recht. Auch das ist nicht das Richtige.
"Dafür siehst du besser aus", mustere ich sie im grünen Samt mitsamt - okay, der Wortwitz war schlecht, ich geb's ja zu - Spaghettiträgern. Ihr Kleid könnte Kim Kardashian zuvor auf dem Cover der Vogue getragen haben.
"Dem kann ich zustimmen", meldet Stean sich zu Wort.
"Ja, damit könnte ich mir mich durchaus auf einer Hochzeit vorstellen", dreht sie sich vor dem Spiegel.
Um keine Zeit zu verschwenden, lasse ich mir von Nilam ins letzte ausgewählte Kleid helfen. Es stammt von Chanel und passt ziemlich perfekt.
"Möchtest du meine Meinung?", fragt Nilam und wartet gar keine Erwiderung meinerseits ab. "Das ist es", konstatiert sie, ohne jeglichen Zweifel in der Stimme.
Also trete ich raus und werde von Carrie, die noch immer im khakigrünen Kleid vor dem Spiegel verweilt, und Stean, der ein leises Pfeifen bei meinem Anblick loslässt, bewundert. Dieses gedeckte Mauve steht mir ausgezeichnet und die Art, mit den Knöpfen, die sich den Rock herunter schlängeln, den halblangen Ärmeln, dem tiefen Ausschnitt abgerundet von einem eine Farbnuance dunkleren Kragen, der wiederum mit den Knöpfen korrespondiert.
"Und ich kann dir die passenden Schuhe dazu leihen", fällt Carrie verblüfft auf. "Das musst du nehmen", verlangt sie.
"Werde ich wohl", lächele ich mein Spiegelbild an.

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