Jeder Frieden nur einen Krieg weit entfernt

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"Wo ist meine Haarspange?!"
"Carrie, beruhig dich, du machst uns alle noch verrückt mit deinem Rumgekreische."
"Ach, halt die Klappe, Stean! Du hast doch keine Ahnung, es sind schon fünf Minuten vergangen. Ich werde nie im Leben rechtzeitig fertig!"
Henry legt mir seinen Arm um die Schultern, als er meinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkt. "Keine Sorge, ich habe jede Menge Puffer eingebaut", versichert er mir.
"Carrie?" Stean hält eine dünne Bobby Pin in die Luft. "Deine?"
"Argh! Du Trampel, ich wette, du hast die ganze Zeit draufgesessen!", zickt sie ihn an.
"Was?! Gar nicht wahr!", brüllt er sofort zurück.
"Bis dahin sind wir taub. Was nützt es uns da noch, dass wir pünktlich bei der Trauung eingetroffen sind?", klopfe ich dem Freund meiner Schwester auf die Schulter.
"Wo bleibt Johannes?", schielt er auf seine Armbanduhr und sieht mich fragend an. Tua fehlt noch immer, bevor er nicht da ist, können wir nicht los. Ich habe ihn extra bezüglich der Zeit angelogen, damit er zur Abfahrt bereit steht. Er sollte schon vor einer halben Stunde angekommen sein. Hoffentlich hat er nicht verschlafen.
"Ähm, der hat's nicht so mit Pünktlichkeit." Nebenbei nehme ich mein Handy vom Tisch und sehe nach, ob er mir geschrieben hat. Leider keine neuen Nachrichten.
Pari und Mika werden mit dem Zug fahren. Vielleicht hätte ich mich ihnen anschließen sollen, das Chaos bei Carrie habe ich offenbar unterschätzt. Sie ist mehr oder minder in Panik, dabei sieht sie toll aus. Ihre olivfarbene Haut leuchtet gesund und kräftig, sie hat ihre braunen Haare zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengebunden, was ihre hübschen Gesichtszüge bloß stärker hervorhebt.
"Du beschwerst dich doch am Ende sowieso darüber, wie zerknittert du aussiehst, wenn du aus dem Auto steigst!", motzt Stean und ich packe ihn am Kragen seiner Weste.
"Hört auf damit!", verlange ich, ehe Carrie kontern kann. "Ist ja nicht auszuhalten mit euch Schreihälsen", murre ich und lasse mich neben Stean auf die Couch fallen.
"Er macht mich wahnsinnig!", echauffiert sie sich ein letztes Mal und legt einen gekonnten dramatischen Abgang hin.
In Erwartung dessen, was unweigerlich kommen wird, halte ich meinem besten Freund rasch den Mund zu. "Nicht, mir steht es bis hier", deute ich grimmig an.
Stean schweigt betreten. Müde reibe ich mir die noch ungeschminkten Augen. Darum wollte sich Pari vor Ort kümmern, wenn wir im Hotel in den Bergen sind. Gott, wie anstrengend solche Hochzeitsvorbereitungen sind ...

Kurz vor knapp taucht Tua endlich auf. In seinem Anzug sieht er gut aus. Seine komplette Aufmachung erinnert mich an unser Date/Nicht-Date am Anfang unserer Beziehung. Viel Zeit bleibt mir allerdings nicht, um darüber nachzudenken. Henry schiebt uns allesamt die Treppe runter in seinen weißen VW.
"Okay", seufzt er. "Jetzt, wo ihr zusammen seid und nicht mehr ausbüchsen könnt, wüsste ich gerne ein paar Dinge zum Tagesablauf."
"Da hättest du mich doch schon vorher fragen können", meint Carrie empört.
"Du hättest einen hysterischen Anfall bekommen und wärst hyperventilierend im Kreis gelaufen", antworte ich für Henry.
"Wie bitte?!"
"Also", übergehe ich sie und sehe Tua aus dem Augenwinkel grinsen. "Die Trauung ist um eins. Planmäßig sollten wir zwei Stunden zuvor im Hotel unsere Sachen abgeben und vorläufig einchecken."
"Schaffen wir", nickt Henry.
"Um halb eins treffen wir uns am Standesamt. Vorher wollen Tua und ich uns mit Freunden von mir im Dorf treffen. Stean, du wolltest -"
"Draußen sein, ein bisschen wandern, Songs und Parts schreiben", unterbricht er mich.
"Carrie und du, Henry, ihr seid vollkommen frei", fahre ich fort.
"Falsch, ich werde Mama zum Friseur begleiten und du ..." Ratlos starrt sie ihren Freund an.
"Ich setze mich mit einem Buch zu euch in den Salon und versuche deine Nerven im Schach zu halten."
"Das klingt vernünftig", atmet sie durch und küsst ihn dankbar auf die Wange.
"Nach der Trauung und dem Sektempfang im Hotel bezieht jeder sein Zimmer", fahre ich fort. Und um fünfzehn Uhr treffen wir uns zum kollektiven Kaffeetrinken in den Räumlichkeiten, die Mama und Thoralf dafür gemietet haben. Dann ist wieder jeder sich selbst überlassen und um neunzehn Uhr beginnt die Feier mit dem Abendessen." Tuas Finger gleiten durch meine Haare, die ich erst später hochstecken möchte. "Du siehst hübsch aus", flüstert er mir zu.
"Du auch", streiche ich lächelnd sein Hemd glatt. "Tanzt du mit mir heute Abend?", zwirbele ich seinen Bart.
"Nur gegen einen Gefallen", stellt er Bedingungen auf.
Schmollend schiebe ich die Unterlippe vor, als Tua ganz nah an mein Ohr herangeht und mir die Dinge hineinhaucht, die er von mir möchte. Es sind alles erfüllbare Wünsche, allerdings in ihrer Stückzahl ziemlich hoch bemessen.
"Nicht zu bescheiden", spotte ich.
"Iara, es waren mehrere Wochen", sieht er mir tief in die Augen und mir läuft es eiskalt den Rücken runter. Wenn er es jetzt ständig fertigbringt, solche starken Schuldgefühle in mir hervorzurufen, bin ich ihm hilflos ausgeliefert. Mir tut es leid, dass ich mit ihm Schluss gemacht habe, obwohl es nur temporär war. Ich will nicht, dass er mir das zukünftig zum Vorwurf macht. Soll das unter der Oberfläche immer ein Thema zwischen uns bleiben? Sofern er das nicht alles in meinem Blick lesen kann, wird er darauf kein Stück reagieren, also wende ich mich beschämt von ihm ab. Ich sollte mich auf die Hochzeit meiner Mutter konzentrieren, das ist erstmal das Wichtigste. Tua schnipst vor meiner Nase herum, aber ich ignoriere ihn. Wozu das Ganze vor versammelter Mannschaft in diesem Auto ausbreiten? Wir können später noch über meine Probleme reden.

"Wie lief's mit Bastian?", fragt Stean mich. Wir biegen auf die Autobahn und ich schüttele bloß stumm den Kopf. Er versteht das und tätschelt meinen Arm.
"Der kriegt sich ein." Doch seine Worte kommen mir leer vor. Irgendwie haben wir uns zusammengerauft. Bis vor kurzem war das die übliche Lösung. Jetzt ist es anders und es erinnert mich an das, was Kaas mal sagte: Viele kleine Konflikte schreiben ewigen Krieg.
"Jeder Frieden nur einen Krieg weit entfernt", erinnert mich Stean an Bens Worte und ich muss lächeln, weil es viel zu gut zu dem passt, was ich gerade dachte. Wir sind uns beängstigend ähnlich.

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now