Wir sind Träumer

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Das Hotel liegt mitten in den Bergen im verschneiten Thüringer Wald. Die rustikale Romantik des Fachwerkhauses passt zu dem, wovon meine Mutter mir vorschwärmte, wenn wir über ihre anstehende Hochzeit sprachen. Sie wollte immer eine Traumhochzeit. Meinen Vater heiratete sie am Strand in Bahia, in Brasilien, damals. Es war traumhaft schön, aber niemand war dort, nur die beiden und Carrie in Mamas Bauch, als winziges Würmchen aus dem erst der schöne, elegante Mensch werden musste, der sie heute ist. Manchmal wünschte ich, dass ich es erlebt hätte, wie sie glücklicher denn je waren und nicht allein ihre Schilderungen kennen würde. Auf der anderen Seite weiß ich nicht, wohin das führen sollte. Meine Eltern haben sich getrennt, ihre Beziehung ist vorbei.
"Iara", küsst Tua mich auf die Schläfe und ich drehe mich zu ihm. "Können wir zum Café ganz in Ruhe laufen? Und reden?"
"Klar", nicke ich. "Ist nicht weit, ich habe die Karte im Kopf."
Henry winkt uns zum Abschied und wir verlassen den Rest der Gruppe. Unseren Zimmerschlüssel haben wir bereits.

"Was war los im Auto?", kommt die Frage, die ich erwartet habe.
Traurig sehe ich zu ihm auf. "Du flüchtest dich in Eifersucht. Möchtest du jedes Mal auf meinem Fehltritt rumreiten, wenn wir uns in Zukunft streiten? Ist es das, was jetzt unweigerlich passieren wird, wenn wir uns in den Haaren liegen?"
"Tut mir leid", murmelt er. "Ich hab's noch nicht vollständig verkraftet. Stattdessen träume ich davon, weißt du? Von dir und Andi."
"Wieso erzählst du mir das nicht?", nehme ich seine Hand und verschränke unsere Finger miteinander.
"Du warst nie wach, als ich aufgewacht bin. Du bist bloß näher an mich herangerückt, hast dich an mich gekuschelt, deinen sagenhaften Körper an meine Seite gepresst ... Als wolltest du mir stumm mitteilen, dass ich mir keine Sorgen machen brauche. Ich habe dich auf die Stirn geküsst, dich gestreichelt, dich angeschaut und irgendwann schlief ich ein, als wäre nix gewesen."
Fröstelnd knöpfe ich meinen bestickten Mantel zu und schmiege meine Nasenspitze an die meines Freundes. "Ich liebe dich", meine ich leise.
"Ich liebe dich auch", erwidert er und drückt mich an sich. In diesem Moment möchte ich weinen, obwohl ich glücklich bin. Der Widerspruch zerreißt mich fast und ich fühle, wie mir einzelne Tränen aus den Augen kullern.
"Ist es schlimm?", erkundigt er sich.
"Gerade ja", antworte ich erstickt. Ich habe so viel falsch gemacht; wie soll ich das, was ich ihm angetan habe, nur je ausgleichen?
"Komm." Er führt mich zu einer Bank und wir setzen uns. Nach einigem Schniefen, tupfe ich mir mit einem Taschentuch das Gesicht trocken.
"Sieht man, dass ich geheult habe?", sehe ich ihn an.
"Ja, aber es wirkt gewollt, wie geschminkt. Du hast den verheulten, bedrückten Ausdruck eines Filmstars."
"Danke", grinse ich leicht.
Er hilft mir hoch und wir gehen händehaltend weiter.

"Hey!", stürzt Pari sich auf mich, sobald wir das kleine Café betreten. "Du musst den Kuchen probieren, der ist viel zu lecker für diese Welt!", schwärmt sie mir vor und will mir eine Gabel in den Mund schieben. Lachend drehe ich mich weg. "Nein, danke. Heute Abend beim Buffet will ich zuschlagen und wir haben gleich nochmal Kuchen."
"Das haben wir ihr alle gesagt", schaltet sich Tim ein.
"Zwecklos", wirft eine mir unbekannte Asiatin ein. Dann, über ihr Vorpreschen etwas verlegen, rudert sie zurück. "Ich bin Kitty", stellt sie sich kurzerhand selbst vor.
"Du heißt Kitsune, nicht Kitty", stupst Mika sie an. Er hat einen Arm um sie gelegt, woraus ich schließe, dass sie seine mysteriöse unbekannte Begleitung ist.
"Kitsune nennen mich meine Eltern. Mag ja sein, dass ich so heiße, aber das bin ich nicht. Höchstens, wenn ich kellnere", faucht sie ihn an, aber es ist kein gemeines Fauchen.
"Klingt japanisch?", vermute ich vorsichtig.
"Exakt."
"Ich bin Tua", mischt sich der riesige Hüne von hinten ein.
"Du heißt Johannes, nicht Tua", strecke ich ihm die Zunge raus und wende mich an Kitty: "Ich bin Iara und heiße auch so. Mit Mika hast du dir einen verdammten Proleten geangelt."
"Ist sein gutes Recht", zwinkert sie mir zu und ich verziehe angewidert die Miene bei der sexuellen Anspielung. Leider - ich betone: leider - weiß ich seit der legendären Poncho-Party, nach der Pari und ich, beide bekleidet, neben einem nackten Mika aufgewacht sind, dass er durchaus mit seinem Gemächt angeben könnte, wenn er der Typ dafür wäre.
Dankbarkeit erfüllt mich, als mir Kitty verbietet, weiter gedanklich in dieser Annekdote zu versinken. "Also, deine Mutter heiratet?", beugt sie sich zu mir vor und ich lasse mich auf den Stuhl fallen, den Tua eigentlich für sich an den Tisch rückt. Achselzuckend lässt er sich auf meinem Schoß nieder. "Aua, du blöder Penner!", fluche ich. "Bitte, dann tauschen wir eben." Murrend schubse ich ihn runter, stehe auf und setze mich umgekehrt auf seinen Schoß.
"Ja, meine Mutter heiratet", bestätige ich in Kittys Richtung. Ihre zwei geflochtenen Zöpfe verpassen ihr den Anstrich einer Wednesday Addams. Sie hat ihr Kleid für den Abend und die Trauung längst an. Es ist ein gemustertes Vintage-Teil in orange, das früher sehr teuer gewesen sein muss, dem Stoff nach zu urteilen.
"Ist das Chanel?", feuert sie eine neue Frage ab, auf die ich gar nicht vorbereitet bin.
"Das Etikett behauptet das."
"Stean sagt, das Preisschild hat es auch behauptet, als es noch dran war", stimmt Tua zu.
"Es stammt aus der diesjährigen Winterkollektion, wundert mich nicht, dass es eine aberwitzige Summe gekostet hat."
"Sie studiert Design", erläutert Mika.
"Modedesign", verbessert sie.
"Dieser Franzose hat ihr Kleid geschneidert."
"Dieser Franzose?!"
Mika streicht über ihren Oberschenkel und ihre anfängliche Empörung verwandelt sich in ein süßes Lächeln.
"Yves Saint Laurent?", rate ich, da das der einzige mir bekannte französische Designer neben Gaultier ist.
"Natürlich. Du solltest nicht abwertend über die Franzosen sprechen, sie haben den Blowjob erfunden", meckert sie mit ihrem Freund.
"Außerdem werde ich Maurice über deine Einstellung informieren", füge ich hinzu.
"Ihr könnt euch seit dem Minigolf doch sowieso nicht mehr ausstehen", streckt er mir die Zunge raus.
"Er hatte verloren!", echauffiere ich mich.
Tua schneidet eine Grimasse hinter mir, über die sie lachen. Als ich mich umdrehe ist sein Pokerface jedoch perfekt.
"Wie habt ihr euch kennengelernt?", übergehe ich den Vorfall einfach.
"Er ist Stammgast im Restaurant meiner Eltern und Mika sieht aus wie ein Elf aus dem Auenland, da musste ich ihn anflirten", plaudert Kitty munter aus dem Nähkästchen.
"Ah, du brauchst nicht weiterzusprechen", unterbreche ich sie. "Mika flirtet zurück, Mika fasst sich ein Herz und lädt dich auf einen Nachtspaziergang ein, sobald deine Schicht beendet ist. Er fragt dich nach deiner Handynummer, Mika haucht dir einen Kuss auf die Wange, Mika schreibt mit dir, Mika trifft sich in einer Bar mit dir, Mika lädt dich zum Abendessen ein. Im Anschluss daran schläft er mit dir, ihr verbringt den Tag danach zusammen, vielleicht geht ihr ins Kino, er bringt dich nach Hause, du nimmst ihn mit nach oben und er möchte von dir wissen, nach einer langen Knutscherei, ob du seine Freundin sein willst."
"Wart ihr mal zusammen?", zieht sie skeptisch eine Augenbraue hoch.
"Das sei jedem selbst überlassen", lache ich. "Nein, unsere Freundschaft hält seit der achten Klasse bloß bombenfest. All deine Vorgängerinnen sind an Pari und mir vorbeigezogen."
Pari nickt dazu. "Iara", sagt sie. "Außer dir haben alle weiblichen Anwesenden, die auf die Hochzeit deiner Mutter gehen werden, ihre eigentlichen Gesichter mit Make Up verdeckt. Folg mir auf die Toilette, dann setzen wir dir endlich die von der chauvinistischen Gesellschaft geforderte Maske auf."

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now