Das Leben läuft

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Tränen rinnen mir die Wangen herab, Tua stoppt mich direkt im Licht einer Ampel und küsst sie weg, einzeln, bis keine mehr nachkommen. Jedes Mal will ich ihm sagen, dass er das nicht tun muss, dass ich weine um das rauszulassen, was sich angestaut hat. Aber irgendwie spüre ich, dass er das tut, weil es seine Tränen sind. Welche, die er vergossen hat und die er gut kennt oder vielleicht auch solche, die er nie vergossen hat und die er in sich aufnehmen will, weil er sie selbst immer zurückgehalten hat. Im Prozess des Begreifens verfliegt meine Traurigkeit. Schließlich hat er einen Weg gefunden, damit zu leben. Mich betrifft es gar nicht unmittelbar und trotzdem führe ich mich auf, als wäre das der Fall. Es berührt mich, keine Frage. Nur runterziehen darf es mich nicht. Auch ich sollte wohl besser einen Weg finden, mit dieser Information zu leben, denn das muss ich von nun an.

Bei ihm klammern wir uns an unsere Teetassen. "Begleitest du mich zur Hochzeit meiner Mutter?", frage ich in die Finsternis der Nacht. Hinter meinem Rücken fällt Licht aus dem Wohnzimmer auf den kleinen Balkon, den wir für uns beanspruchen. Vor mir herrscht Schwärze.
"Logisch", meint er ruhig.
"In zwei Wochen ist das", warne ich ihn vor.
"Anzug?"
"Hemd und ordentliche Hose reichen."
Er schlingt einen Arm um meine Taille und ich schmiege mich seitlich an ihn. Im Fenster uns gegenüber geht eine Kerze an, zwei Gestalten werfen einen Schatten auf die Gardine. Sie verschmelzen miteinander in einem Kuss. Tua und ich schweigen. Schneeflocken rieseln vom Himmel und verschlucken sämtliche Geräusche.
"Gehen wir rein?", flüstert er mir ins Ohr und ich beschließe, den friedlichen Moment vorüberziehen zu lassen und ihm einen intensiveren vorzuziehen, der unweigerlich folgen wird.

Im Raum ist es wesentlich wärmer und gemütlicher. Die Atmosphäre ist aufgeladen und knistert vor Spannung, als er mich zu sich zieht. Seine Hände wandern über meinen Körper und meine eigenen Hände nehmen sich ein Bespiel an ihnen. Tua ist mir vertraut. Ein Stück weit ist es wie heimzukehren nach einer anstrengenden Woche, in Vorfreude auf das, was die arbeitsfreien Tage bringen werden, nämlich Ruhe, eingemurmelt in einen weichen, molligen Pullover vor dem zusätzlich wärmenden Kaminfeuer hockend.
Wir verlagen unseren Standort auf die Couch, wo wir bequemer beieinander liegen können, obwohl aus beieinander schnell aufeinander wird. Das passt einfach besser.
Kuss folgt auf Kuss. Wenn man sich mit den Dingen beschäftigt, die man am besten händeln kann, ist es doch nochmal etwas ganz anderes. Er kennt Kniffe und Tricks, die mich triggern und er hat keinen einzigen vergessen.

Später lächeln wir uns ein wenig grenzdebil an. Anerkennend fächle ich mir Luft zu und Tua lacht.
"Dein Lachen ist wunderschön", sage ich leise und versinke dabei in seinen Augen.
Zum Dank küsst er mich auf die Nasenspitze. "Wann hast du das herausgefunden?", sieht er überrascht zu mir und zeigt auf sein unter der Decke verschwindendes V, dem ich vorhin meine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt habe, weil es ihm zweifellos gefiel.
"Das war nach Jenns Geburtstagsparty", antworte ich.
"Oh, an dem Abend war ich ziemlich dicht." Er kratzt sich am Bart.
"Ging", widerspreche ich.
"Nee, ich muss verdammt hacke gewesen sein, wenn mir das nicht im Kopf geblieben ist", insistiert er und wuschelt mir durch die Haare.
"Gibt es einen Pizzaservice, der um die Uhrzeit liefert?", erkundige ich mich, ohne große Hoffnung.
"Gibt es. Das war was mit T und U und A, glaub ich", grinst er.
"Du bist jetzt Pizzalieferant? Wie tief bist du nur gefallen?", spiele ich die Schockierte.
"Pizza aus dem Tiefkühler ist in zehn Minuten fertig", macht er Anstalten aufzustehen, aber ich kralle mich fest.
"Nicht gehen", schmolle ich.
"Pizza oder meine Gesellschaft, entscheide dich."
"Beides", zucke ich die Schultern.
"Spring auf", seufzt er und ich lasse mich huckepack nehmen.
"Soll ich dich fallen lassen oder holst du sie aus dem Karton?", erkundigt er sich höflich.
"Ich hol sie raus. Auf die Knie, Sklave!", befehle ich.
Prompt lockert sich sein Griff und ich kreische kurz auf, bevor mir klar wird, dass ich in der Schwebe  verweile, auch wenn das Adrenalin, das durch meine Adern gepumpt wird, das Gegenteil behauptet. "Tua!", tadele ich ihn.
"Ach, auf einmal ist es wieder Tua und nicht länger Sklave, was?", amüsiert er sich.
"Ist das nicht ein und dasselbe?", provoziere ich.
"Deine Mudda ist ein und dasselbe."
"Äußerst schlagfertig", zeige ich mich unbeeindruckt. Diesmal erwidert er nichts, sondern küsst meinen Hals und beißt mich vorsichtig. Leider weiß er nur zu gut, wie verrückt mich das macht. "Unfair", nuschele ich.
"Gar nicht", empört er sich.
"Sowas von", halte ich dagegen und fahre seinen Torso mit den Fingerspitzen nach.
"Hey", drückt er mich hart gegen die Arbeitsplatte der Küche, als die Berührung gerade beginnt, ihn zu benebeln. "Du wolltest Pizza", wirft er mir vor.
"Und deine Gesellschaft", füge ich unschuldig hinzu.
"Gesellschaft", setzt er das Wort in imaginäre Anführungszeichen.
"Na ja", suche ich nach einem treffenderen Begriff und scheitere kläglich. "Pizza!", rufe ich stattdessen und feuere das gefrorene Rund schwungvoll in den Ofen.
"Zehn Minuten", lese ich die Zubereitungsanweisungen vor.
"Keine Hektik", wehrt Tua indirekt ab und ich lege den Kopf leicht schief.
"Was denn?", grummelt er. "Pausen dazwischen sind wichtig, ich brauch ein paar Minuten."
"Armer alter Mann", bemitleide ich ihn. "Du brauchst vielleicht ein bisschen Zeit. Ich nicht." Mit dieser Aussage, schiebe ich ihn zurück ins Schlafzimmer ...

Der Teller, den ich auf seiner Brust platziert habe, wackelt ab und zu gefährlich. Hungrig verputze ich die Margharita. "Sieh mir nicht beim Essen zu!", schnauze ich ihn an.
"Ist wohl kaum zu vermeiden, du liegst auf mir", schmunzelt er belustigt.
Entschlossen stopfe ich ihm ein Stück in den Mund.
"Ey", mampft er beleidigt.
"Hattest du eigentlich was mit einer anderen oder muss ich mich schlecht fühlen?", werde ich los, was mich schon bedrückt, seit wir bei Tarik und Jenn aufgebrochen sind.
"Nein und nein", fasst er sich knapp.
"Wieso das zweite Nein?", hake ich nach.
"Weil ich darüber nachgedacht habe, mit Betty zu schlafen, bloß um dir wehzutun."
Mein Kiefer stürzt ein Stockwerk runter.
"Guck nicht so, ich bin nicht stolz drauf und es ekelt mich generell vor der Vorstellung und davon, dass ich zu dieser Vorstellung überhaupt fähig war."
"Ih", verkünde ich langgezogen.
"Ähm, Andi?", rechtfertigt er sich.
"Verzeihst du mir?"
"Iara", schlägt er einen ernsten Ton an. "Für den Fall, dass du's aufgrund fehlender Erfahrung nicht kapiert hast: Das, was du eben mit mir hattest, nennt sich Versöhnungssex."
"War's deswegen absolut geil?"
"Eindeutiges Jein. Hauptsächlich war's absolut geil, wegen der Durststrecke zuvor. Trotzdem ist der allgmeine Gemütszustand Zufriedenheit, man hat sich vertragen, alles ist im Lot: Das gibt Pluspunkte auf Geilheit."
"Hilft Versöhnungssex?"
"Meistens."
"Hat's geholfen?"
"Nicht wie die Gespräche, aber ja, natürlich."
Möglicherweise ist die längere Durststrecke der Grund dafür, dass es unfassbar war. Tua und ich hatten öfter mal Versöhnungssex, allein das hier war unvergleichlich gewesen; ein Neustart von Null.

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