Die Berg- und Talfahrt, die ein Leben beschreibt

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Als ich dann ein paar Stunden später, nach endlosen, sich im Kreis drehenden Gesprächen mit Luk, Stean aus der Bar ziehe, geht es mir doppelt so schlecht wie noch vor wenigen Minuten.
"Der Vollidiot! Dieser Arsch hat alles in den Dreck gezogen, was er über mich wusste!", raufe ich mir die Haare.
"Iara", macht Stean eine dieser Gesten, die Menschen anwenden, wenn sie ein aufgebrachtes Tier besänftigen möchten, doch ich lasse ihn gar nicht ausreden. Bestimmt hätte er nur einen seiner einleuchtenden Einwände vorgebracht und auf seine lückenlose Argumentation kann ich gerade wirklich verzichten. Wenigstens einen Moment sollte man mal die wütende Zicke spielen dürfen, das ist ein Privileg, das ich mir auch nicht von meinem besten Freund nehmen lasse. Ja, ein bisschen blöd ist es schon, das gebe ich zu, ich will schließlich sonst keine Zicke sein, aber ich will mich nunmal jetzt aufregen, wieso darf ich das denn nicht? Warum dürfen Frauen keine Wut zeigen, soll das etwa nur der männlichen Spezies vorbehalten sein und aus welchen dämlichen Gründen, bitte? Ehe ich mich versehe, fröhne ich dem Feminismus und schimpfe schnatternd von Gleichberechtigung und Genderungerechtigkeiten.
Stean packt mich an den Schultern und schüttelt mich. "Iara!", wiederholt er, diesmal wesentlich lauter und eindringlicher. Der scharfe Befehlston lässt mich zur Salzsäule erstarren.
"Du schweifst vom Thema ab, mit der Geschlechterfrage kannst du dich ein andermal beschäftigen. In erster Linie ist im Moment wichtig, wie du mit dem Typen Kontakt aufnimmst und einen Versuch startest, die ganze beschissene Sache persönlich mit ihm zu klären. Weder Tua noch ich werden dem Spacko irgendwie freundlich geartet entgegentreten, geschweige denn ihn ungeschoren davonkommen lassen. Es liegt also bei dir, ob es unschön wird, sobald wir einschreiten, oder die Kollateralschäden minimal bleiben, weil du vorher geschickt mit ihm verhandeln konntest."
Er schaut mich an, sucht nach einer Bestätigung in meinem Mienenspiel und ich gewähre sie ihm, indem ich die Lider senke.
Mein Gesicht fühlt sich nass an und ich wische mir mit dem Ärmel von (ehemals) Maurice' Adidasjacke über die Wangen. Im Gegensatz zu Tarik regt sich Stean nie auf, wenn ich weine. Er kann damit umgehen und er versteht es zum Teil viel besser.
"Das ist doch scheiße", murmele ich und unterdrücke ein Schluchzen. Dieses Überkochen der Emotionen nervt mich ja selbst, aber nach dem Müll, den ich gerade erst mit Tua durchhabe, kann ich diese Verzerrung meines Images nicht zusätzlich noch verkraften. Lille hätte sich wenigstens ein, zwei Monate Zeit mit der Aktion lassen können.

Stean und ich setzen uns gemeinsam auf den Bordstein.
"Hey, können wir ein Autogramm haben?", tippt ihm ein tätowierter Kerl mit Sonnenbrille, die er trotz der tiefschwarzen Dunkelheit trägt, auf die Schulter.
"Nachher, okay, Kumpel?", schickt Stean ihn weg und ich lehne mich an ihn, um endlich runterzukommen, die Panik zu verscheuchen und stattdessen den mir vertrauten Stean-Geruch der Geborgenheit aufzusaugen, der mir mit jedem Atemzug zuflüstert, dass alles wieder gut wird.
"Möchtest du nach Hause?", legt er tröstend einen Arm um mich.
Verneinend schüttele ich den Kopf und starre stumm geradeaus. "Ich hab das so vermisst", krächze ich. "Dich und diese ruhige, ausgeglichene Stimmung, in die du mich hineinversetzt." Meine Nase juckt, das ist ein schlechtes Zeichen. "Du fehlst mir so schrecklich, Stean." Zum zweiten Mal heute sammeln sich Tränen in meinem Augenwinkel, also vergrabe ich mein Gesicht schnell an seiner Brust und kralle mich in seinen Hoodie. "Du fehlst mir ganz fürchterlich. So, so doll", nuschele ich in den grauen Stoff.
"Iara, ich kann bleiben. Eine längere Zeit sogar, wenn es dir hilft. Für die Albumarbeit müsste ich sowieso nach Berlin fahren, dann kann ich auch bleiben und bei dir sein. Du fehlst mir doch auch so furchtbar." Er drückt mich fest und der Schluchzer von vorhin flüchtet sich nun doch über meine Lippen.
"Das würdest du tun?"
"Erinnerst du dich, wie ich dir mal erklärt habe, dass ich absolut alles für dich tun würde?"
"Ich konnte nie richtig glauben, dass du das ernst meinst", blicke ich erstaunt in seine schokoladenbraunen Augen.
"Logisch meinte ich das ernst", beteuert er etwas gekränkt. "Das war kein dummes Gerede. Du bist meine beste Freundin. Nur weil ich manchmal kaum mit dir spreche, heißt das nicht, dass sich daran etwas ändert. Dass manchmal Funkstille zwischen uns herrscht, liegt daran, dass ich wunschlos glücklich bin, dass es mir gut geht und dass es dir gleichzeitig auch gut geht. Eigentlich geht es uns am besten, wenn wir einander gegenseitig vergessen, ist dir das noch nie aufgefallen?"
"Wie bei der zauberhaften Nanny?"
Stean zieht fragend die Brauen zusammen.
"Wenn wir uns brauchen, sind wir da und wenn wir uns nicht brauchen, trennen sich unsere Wege irgendwie", erläutere ich.
"Ach ja." Ihm ist anzusehen, dass er mit Mühe an den Film zurückdenkt. "Ja, das kommt wohl hin."
Und wir haben die gleichen Worte im Kopf: Wie traurig. Wie wunderschön und traurig.

"Hast du Bock auf feiern morgen?", erkundigt sich Tua bei mir, als wir mit Bastian und Stean in die U-Bahn steigen.
"Ja, wieso nicht?", antworte ich gleichgültig.
"Ich gehe hin, du kannst dich spontan entscheiden, ob du mitwillst."
"Sonst machen du und ich was", meldet sich Stean. "Pizza, Kino, zocken", zählt er auf.
"Einmal alles bitte", unterbreche ich ihn.
Tua schreibt mit irgendwem, während ich mit Bastian und Stean quatsche, wie in alten Zeiten. Mein Mitbewohner hat mir auch gefehlt, obwohl er sich seinen Kommentar zu Andi und mir echt hätte verkneifen können. Wie dem auch sei, er hat sich entschuldigt und scheint die unpassende Bezeichnung zu bereuen. Die fehlende Kommunikation zwischen uns macht mein Freund mit konstantem Händchenhalten und gelegentlich kleinen Küssen wett.
Daheim begeben wir uns in geschlossener Runde auf den Balkon. Stean und Tua kiffen, Bastian und ich lehnen ab. Stattdessen teilen wir uns ein Bier und unterhalten uns über meine Schwester.
"Ab und an schreiben wir und auf ein paar Partys haben wir uns zufällig getroffen", erzählt er. "Sie sieht manchmal verdammt gut aus, strahlend schön, dann wackelt sie mit ihrem brasilianischen Traumarsch auf der Tanzfläche rum, und manchmal sieht sie verdammt schlecht aus, dann ist ihr Gesicht mit Schminke zugekleistert und sie verbringt den Abend in der Raucherecke."
"Ist das eine Achterbahnfahrt?", wundere ich mich.
"Könnte man behaupten. Wechselhaft ist es allemal", erwidert er, steht auf und telefoniert drinnen geschäftlich.
Ich tippe eine lange Mail am Handy an Carrie und versende sie, bevor ich ebefalls den Balkon verlasse und meinen Freund und meinen besten Freund sich selbst überlasse.

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now