Was bleibt?

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"Nichts. Du hast alles gesagt. Keine Ahnung, wie du das machst." Seine Lippen treffen ein zweites Mal auf meine und er lächelt in den Kuss.
"Was denn?", frage ich unschuldig, aber auch ernsthaft unwissend, weil ich wirklich nicht sicher bin, was er damit meint.
"Wie du das verdammt nochmal hinbekommst, dass du immer in letzter Sekunde das Steuer rumreißt. Erst bin ich sauer auf dich und plötzlich bist du so sehr du, dass es mir leid tut, dass ich je sauer auf dich war. Es kommt mir albern vor. Du wechselst zwischen kindisch und reif und beide Seiten sind unheimlich attraktiv, aber manchmal brauche ich genau eine von beiden und in diesem Moment setzt du mir - wenn auch selten - die falsche vor und wenn du es tust, dann korrigierst du dich binnen Minuten. Und mich verwirrt es unsagbar, wenn du das nicht tust; wenn du dich nicht korrigierst, wie an dem Abend, als du mit mir Schluss gemacht hast. Weil ich verwirrt war, wollte ich nicht mit dir reden; ich hatte einfach Angst, dass du mich wieder verwirren würdest. Meine Hoffnung, Iara, besteht darin, dass du lernst, wann du umschalten musst."
Etwas geschockt weiche ich zurück. "Tua, du -", setze ich an. "Das überfordert mich. Allein kann ich nicht einschätzen, wann ich umschalten muss. Du bist der Einzige, der das festlegen kann; ich kann höchstens auf meinen Instinkt vertrauen und der täuscht mich häufig. Was du einforderst, nehme ich mir zu Herzen, natürlich." Sanft umfasse ich sein Gesicht. "Nur gib mir Hinweise, damit ich meinen Instinkt schulen kann." Vorsichtig streiche ich mit dem Daumen über seinen Mund.

Beim Laufen greift er nach meiner Hand und wir schlendern wortwörtlich Händchen haltend durch Berlins Straßen. "Hast du Lust auf einen Spaziergang?", erkundigt er sich.
"Ja", antworte ich und grinse in mich hinein.
"Also, Grinsebacke", spottet er liebevoll und kassiert für den Spitznamen einen leichten Schlag auf den Arm. "Dieser Tim", fährt er fort. "Vermutlich war das bloß jemand wie Lille, der dir über den Weg gelaufen ist und mit dem du dich halbwegs gut verstanden hast."
"Könnte man sagen, obwohl ich an dieser Stelle betonen möchte, dass Lille und ich uns anfangs nicht unbedingt blendend verstanden haben. Außerdem bin ich wütend auf ihn, weil er dachte, nach unserer Trennung hätte er einen Freifahrtschein, mich zu ficken. Wichser", murmele ich. "Um das klarzustellen: Tim ist nicht wie Lille. Zu Tim habe ich eine engere Bindung. Weißt du, Stean und Tarik sind grandios, meine besten Freunde. Das Problem mit beiden ist, dass ich die zuhörenden Partei bin. Soll nicht heißen, dass sie mir nicht zuhören. Sie hören zu, trotzdem bestimmen sie eher über mich, sobald ich ihnen von meinen Fehlern erzähle, erklären mir meine nächsten Schritte, was ich zu tun habe. Tim hingegen", pausiere ich kurz, "tut das nicht. Oder vielleicht doch, aber bei ihm fühlt es sich nicht an, als würde er mich beeinflussen wollen."
"Magst du ihn?" Tua schluckt hörbar.
"Nicht auf die Art, die du gerade befürchtest."
"Wieso, ist das offensichtlich?" Er schüttelt den Kopf über sich selbst.
"Nur für mich", erwidere ich.
"Super", verdreht er die Augen.
"Hey, niemand außer dir hätte vorhin gesehen, wie glücklich ich war, als du mir diesen Spaziergang vorgeschlagen hast. Für jeden anderen hätte es ausgesehen, als wäre ich ein bisschen verliebt in dich. Als hätten wir uns heute getroffen, zusammen was gegessen und wären jetzt unterwegs zu dir, um abzuwarten, was heute noch zwischen uns passiert. Du weißt, was heute noch zwischen uns passieren wird. Und du weißt, dass ich nicht nur ein bisschen in dich verliebt bin."

Im grellen Licht der Straßenbahnhaltestelle presst er mich gegen eine der Glaswände. Die Berührung lässt mich nach Atem haschen.
"Faszinierend, oder? Du bist anders als ich, wir sind völlig verschieden. Ist es nicht merkwürdig, dass sich unsere Gefühle für den jeweils anderen stark ähneln? Am Anfang, als wir lediglich miteinander geschlafen haben, ohne uns Gedanken über eine Beziehung zu machen, da war es genauso. Außer dir habe ich keine Frau gebraucht und als ich eine andere wollte, konnte ich sie nicht haben, denn sie war nicht du. Fiel es dir schwer, mit Andi zu schlafen?", verhört er mich.
"Zu Beginn nicht, wenn wir bloß rumgemacht haben. Währenddessen schon", gestehe ich. "Ein Spaß war das nicht, Leidenschaft auch nicht; es war nichts weiter als ein mieser Ausrutscher. Erinnerst du dich an den Tag, an dem dein Großvater beerdigt wurde?"
Er nickt stumm.
"Wie das. Wie das hat es sich angefühlt."
"Es tut mir leid für dich", drückt er mich an sich und ich lege meine Stirn auf seiner Schulter ab. Kaum zu glauben, dass er es wirklich versteht. Damit ist er der Erste überhaupt. Sein Interesse ist echt.
"Tut gut, das zu hören", nuschele ich.
"Ich weiß", streichelt er mir übers Haar.

"Warum hast du Mascha eigentlich betrogen?", zögere ich. Wir sind ein Stück auf den Schienen gelaufen, im Schatten der Bäume, die den Rand der Allee säumen.
Tua schielt verstohlen zu mir rüber, mit prüfendem Blick. "Mascha und ich waren früher fast befreundet, wie Jenn und ich. Sie wusste viel über mich: Dass ich unzuverlässig bin, dass ich mir weibliche Gesellschaft suche, wenn ich sie brauche und dass ich sie oft brauche. Den ganzen Kram, der mich zu einem schlechten Menschen macht, über den wusste sie Bescheid. Eines Morgens sind wir nebeneinander aufgewacht, nackt. Und der Arzt hat festgestellt, dass sie schwanger war. Hurra!", höhnt er, die Hysterie in seiner Stimme ist unüberhörbar. "Auf einmal haben wir gestritten, heftig und mehrfach. Um dem ein Ende zu setzen habe ich gefragt, ob sie meine Freundin sein möchte. Sie wollte. Dass das bescheuert von mir gewesen war, hab ich geschnallt, als ich feiern gegangen bin mit meinen Jungs und mir nichts, dir nichts mit einem dahergelaufenen Clubflittchen rumgeknutscht habe. Wir stritten, die Sache ist eskaliert und sie hat das Kind abgetrieben. Das Traurige ist, dass sie erst danach wichtig für mich wurde. Danach wollte ich sie schützen, sie hatte all das durchgemacht, wegen mir. Die Rechnung ging anscheinend nicht auf, weil ich mich trotz der neuen Motivation nicht im Geringsten geändert hatte, sie nach Strich und Faden betrog. Damals hatte ich keinen blassen Schimmer, dass sie davon irgendwie Wind bekam. Seit dem Tag, an dem du das Foto gefunden hast, weiß ich das. In gewisser Weise war es Liebe und doch hat sie sich zurecht von mir getrennt. Manche Wunden gehen zu tief, die verheilen niemals."
Mir versagt die Stimme bei seiner Geschichte.
Er mustert mich bitter. "Song erkannt, hm?", hakt er nach und spielt ganz offensichtlich auf Ohne Titel an.
"Wie schön, dass es dunkel ist", krächze ich.
"Wieso?"
"Sonst würdest du mich weinen sehen."

ÜbergangslösungWhere stories live. Discover now