Wir waren mal Freunde

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Die logische Konsequenz war mein Finger, der sich zögerlich und mehr unwillig als freudig auf den Knopf der Klingel legte und ihn langsam herunterdrückte. Erst war es, als könnte ich ihn jederzeit wieder zurückziehen, ohne dass oben in Lilles Wohnung wirklich das Geräusch, das einen anstehenden Besucher verriet, ertönt wäre. Aber dann war der Punkt überschritten und ich wusste, wäre er da, würde er sich jetzt auf den Weg zur Tür machen. Stimmt, diese Option bestand natürlich auch: Dass er gar nicht zu Hause wäre und deshalb nicht öffnen könnte. Doch meine Hoffnung wurde Lügen gestraft. Im nächsten Moment dröhnte ein mechanisches "Ja?" aus der Sprechanlage und mein eigener Name blieb mir im Hals stecken. Wenn ich mich als Iara ankündigte, würde Lille mich auch als Iara empfangen, also vermutlich gar nicht.
"DHL hier; Paket für Sie", sagte ich stattdessen, denn dieser verachtenswert gutaussehende Kerl bestellte sich jede Woche neue Klamotten, wie er mir anvertraut hatte. "Das gehört zu meinem Job", deklamierte er mit vor lauter Modelstolz geschwollener Brust. Wer's glaubt. Lille hat einfach nur ein Problem mit Fashion, er muss ständig die aktuellen Kollektionen besitzen. Kaufen tut er sie gern, sein schwedischer Unternehmerpapa bezahlt schließlich alles.
Die Tarnung funktioniert, der Summer gewährt Stean und mir Einlass ins Haus.
"DHL?", zieht mein bester Freund skeptisch eine Augenbraue hoch.
"Wieso sollte mich jemand, der so über mich geschrieben hat, überhaupt noch in seine Wohnung lassen?", kontere ich.
"Kein schlechtes Argument."

Glück oder eine höhere Macht spielen mir in die Hände. Lille hat noch nicht geöffnet und kann die Tür nicht gleich zuknallen, bevor ich meinen Fuß hineinstellen konnte. Etwas mutiger diesmal, klopfe ich.
"Komme schon!" Hinterhergemurmelt flucht er von fehlender Geduld.
Viel belustigender finde ich seinen Gesichtsausdruck beim unwiderruflichen Erkennen, wer da vor ihm steht. Hätte sich mein Hals nicht in die Wüste Sahara verwandelt, hätte ich mich ausgeschüttet vor Lachen. Leider bemerke ich, dass sich das schwierig gestaltet, weil ich gerade eine unangenehme Situation erlebe, die nicht zum Lachen ist.
"Du?", meint Lille überrascht.
"Ja, ich." Die Frau, die da redet, wirkt grob und ungehobelt. Ob sie wirklich etwas mit mir zutun hat?
Seufzend fährt sich mein Gegenüber durch sein karamellfarbenes Haar. "Du willst reinkommen, oder?", fragt er mich.
"Zu deinem Pech, möchte ich das wohl", bestätige ich.
"Kann dein Schläger draußen bleiben?", mustert er Stean skeptisch.
"Hängt davon ab. Können wir das friedlich ausdiskutieren?", will ich wissen.
"Na, los", bittet er mich. "Eine Erklärung bin ich dir schuldig." Er schiebt mich rein und lässt Stean im Hausflur stehen. Der weiß, dass ich ihn sofort kontaktiere, falls irgendwas eskalieren sollte und ist in Alarmbereitschaft, das hat er mir eben unten am Eingang versichert.

Bei Lille riecht es nach Zedernduftkerzen, gemixt mit einem teuren Männerparfüm, von dem ich vergessen habe, wie es heißt.
Im Wohnzimmer lasse ich mich auf die Couch fallen.
"Möchtest du was trinken?", huldigt er der Höflichkeit. Stumm schüttle ich den Kopf.
Ohne einen weiteren Kommentar gießt sich Lille selbst Orangensaft in ein Glas.
"Warum verbreitest du Lügen über mich im Internet?", platze ich heraus. Wie er da so vollkommen ruhig seinen Saft nippt, lässig an die Küchentheke gelehnt - Es macht mich wahnsinnig.
"Lügen? Na ja, man muss das schon differenziert betrachten."
"Differenziert betrachten?!"
"Klar, immerhin kennst du echt einen Haufen Rapper und die Freundschaft mit ihnen bedeutet dir etwas."
"Natürlich bedeutet sie mir etwas, das sind nunmal meine Freunde. Sie bedeutet mir viel, aber bei Gott keinen Ruhm, auf den kann ich getrost verzichten", beteuere ich.
"Jeder sucht sich seine Freunde aus und es lässt durchaus Rückschlüsse auf dich zu, dass dein engerer Kreis fast ausschließlich aus bekannten Musiker besteht", versucht Lille seine Position zu verteidigen.
"Es hat sich ergeben", betone ich jedes einzelne Wort überdeutlich. "Dafür kann ich nichts, ich bin nicht mit der Intention neue Freundschaften zu schließen in dieses Meet&Greet damals gegangen, sondern einzig und allein mit der unbändigen Vorfreude, die ein Fangirl verspürt, dass gleich seine Lieblingsband treffen wird. Außerdem wurde mir die Freundschaft mit Musikern theoretisch in die Wiege gelegt. Meine Schwester hat für Marteria gesungen, traf auf Casper und Kraftklub und die ganze Meute und eines Tages hat sie mich daran teilhaben lassen und ich wollte nie mehr weg von all diesen bewundernswerten Menschen, die lieb zu mir waren, die mich akzeptierten, wie ich war und die nach und nach mehr in mir sahen, als die kleine Schwester von Marten Lacinys Backgroundsängerin. Es ist passiert. Ehe ich mich versah. Dann war ich drin in dieser - ihrer - Welt und ihre Welt wurde mit zu meiner. Leute lernen einander kennen, Lille, wie wir beide uns auch kennengelernt haben. Und wenn die Chemie stimmt, dann entwickelt sich aus Bekanntschaft Freundschaft. Diese Entscheidung, wer unser Freund oder Feind wird, ist uns genauso wenig überlassen, wie die, in wen wir uns verlieben. Dementsprechend: Nein. Nein, man kann sich seine Freunde nicht aussuchen."
"Bist du nicht stolz auf das, was deine Freunde erreicht haben? Dass sie erfolgreich sind?"
"Logisch. Ich war auch immer auf dich stolz, als wir noch Freunde waren. Darauf, dass du Model warst, als Schwede in Deutschland studierst und alles dafür tust, um deinen Traum eines Tages ein berühmter Schauspieler zu werden zu verwirklichen. Du bist zielstrebig, aber ich kann nicht länger stolz auf dich sein und länger mit dir befreundet sein, kann ich auch nicht."
Da vollzieht sich ein Wandel in seiner Miene. "Hey, Iara. Das war definitiv nicht in Ordnung, was ich geschrieben habe. Lass es mich erklären", fleht er förmlich.
Gleichgültig zucke ich die Schultern. "Weißt du, eigentlich ist mir das ziemlich egal. Ich glaube nämlich kaum, dass du gute Gründe hattest."
"Die hatte ich auch nicht", nickt er. "Meine einzige Ausrede ist, dass ich richtig besoffen war an dem Abend, als ich das geschrieben und gepostet habe. Es war ein Fehler, ich war einfach nur sauer auf dich und das habe ich dann in diesem Blogeintrag zum Ausdruck bringen wollen." Seine Worte gleichen der verzweifelten Armruderei, die ein Ertrinkender im tiefen Wasser vollführt.
"Ach, Lille. Du musst doch einsehen, dass du nicht einmal einen Grund hattest, auf mich sauer zu sein. Die Entscheidung, mit wem ich das Bett teile, ist allein mir überlassen und ich war fertig mit der Welt und besonders mit Tua und du hattest rein gar nix damit zu tun, während Andi ja zuvor einer der Streitpunkte zwischen mir und ihm gewesen war und ich bin nicht stolz darauf, aber mich mit dir quasi an ihm zu rächen wäre nicht halb so schlimm für ihn gewesen, wie es die Sache mit Karate Andi war. In dem Moment wollte ich ihm nur wehtun." Ein klebriger, schwerer Klumpen bildet sich in meinem Hals bei der Rückblende, die sich in meinem Kopf abspielt.
"Tua hat mich mal krankenhausreif geschlagen, erinnerst du dich?" Dann sieht er fast beleidigt aus, als er behauptet: "Mit mir hättest du ihn eifersüchtig machen können. Mindestens so gut wie mit Andi."
"Nein", schüttele ich zum zweiten Mal heute vehement den Kopf. "Damals hat Tua dich geschlagen, weil du mich kaum kanntest und dachte, du hättest mich abgefüllt. Er konnte deine Dummheit in dieser Nacht nicht ertragen", schiebe ich hinterher. "Deshalb bist du am nächsten Morgen im Krankenhaus aufgewacht. Deshalb und weil ich noch dümmer war, mich auf dich einzulassen. Du stellst keine Bedrohung für ihn da, er weiß es, ich weiß es. Und du solltest es am allerbesten wissen."

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