Als sie so weit waren, kaufte Azad zwei Karten und sie stiegen ein. Selin grinste aufgeregt, winkte ihrer großen Schwester zu. Rüya lächelte sie müde an, meinte: »Pass auf, dass du oben nicht runterfällst!«
Selin schielte verschwörerisch zu Azad. »Das bedeutet: Falls ich runterfalle, bist du des Mordes verdächtig!« Dann kicherte sie, auf die besondere Art, wie nur Kinder es konnten. Ebenfalls in einer verschworenen Geste beugte sich Azad nun seinerseits zu dem kleinen Mädchen. »Sie wagen es, mir zu drohen, Madam?«
»Jawohl!« Stolz hob sie den kleinen Kinn nach oben. Es war eine kleine Geste, die ihm die Verwandtschaft zwischen ihr und Rüya verriet. In genau der gleichen Haltung hatte Rüya vor Wochen ihren Kinn vor Azad erhoben. Er musste grinsen, als ihm diese Ähnlichkeit bewusst wurde. »Ganz wie die Schwester, hm?«
»Woher kennst du meine Schwester?« Der interessierte Blick, der Neugier und Anbetung offenbarte, hatten eine unwiderstehliche Mischung auf dem kindlichen Gesicht. Wie konnte Rüya ihr auch nur irgendetwas abschlagen? Wäre sie Azads kleine Schwester gewesen, hätte sie ihn mühelos um den kleinen Finger wickeln können. Vielleicht war es ja nicht einmal notwendig, dass sie verwandt waren?
Wenn er genauer darüber nachdachte, konnte er sich sehr gut vorstellen, wie sie ihn trotzdem dazu bringen konnte, alles zu tun, was sie wollte.
»Kennen wäre zu viel«, antwortete er, als sich das Riesenrad langsam in Bewegung setzte. »Meine Tante kennt deine Schwester.«
Aufgeregt klammerte sich Selin an dem Griff der Gondel fest. »Es geht los!«
Staunend starrte sie den Markt und die Stände an, die sich immer weiter unter ihnen zurückblieben. Ein paar Mal blieb die Gondel stehen. Als sie schließlich eine komplette Umdrehung genossen hatten, war Selin am Strahlen. Allein dieses Strahlen war es Azad wert gewesen, mit ihr Riesenrad zu fahren.
»Rüya Abla!«, rief sie aufgeregt und sprang auf ihre Schwester zu. Diese schwankte leicht. Als sie schließlich lächelte, bemerkte er den schmerzlich verzogenen Zug um ihre Mundwinkel. »Hat's dir gefallen, Selin?«
Sie klang etwas atemlos, musste kurz husten und räusperte sich. Selin, der das entging, fing strahlend an davon zu erzählen, wie die Welt von da oben ausgesehen hatte. »Hm«, war Rüyas leicht abwesende Antwort. Sie keuchte schon fast. Man konnte winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn entdecken. »Selin...lass uns jetzt gehen. Ich bringe dich zurück, ja?«
Azad spürte, wie seine Tante widersprechen wollte. Wie sie ihren Mund aufmachte, um zu fragen, ob alles okay sei. Ehe es dazu kam, warf er ihr einen scharfen Blick zu. Sie meinte es nur gut, aber Rüya war eine erwachsene Frau, die sich selber um ihre Angelegenheiten kümmern wollte. Das musste seine Tante lernen. Böse funkelte sie Azad an, weil er es gewagt hatte, sie aufzuhalten. Rüya machte einen Schritt weg, sie winkte leicht zum Abschied. Ihre Augen wurden glasig, während Selin protestierte. Dann ließ sie ihre Schwester los, stützte sich leicht zur Seite - und keine Sekunde später kippte sie um. Necmiye stieß einen kleinen Schrei aus, während Selin hysterisch nach ihrer Schwester griff. Er war nicht rechtzeitig bei Rüya, um sie vor einem harten Stoß mit dem Boden zu bewahren. Er hatte es kommen sehen.
»Das hast du nun davon!« Die wilde Beschuldigung seiner Tante flog um seine Ohren, während er sich neben die bewusstlose Frau kniete und einen Finger auf ihren Puls legte. Er ignorierte sie. Selin rüttelte an Rüyas Arm. »Abla! Abla!« Hysterisch kreischend weinte das kleine Mädchen. »Abla, kalk, nolursun kalk! [Abla? Steh auf, bitte, steh auf!]«
Azad zog seine Jacke aus, hob Rüyas Kopf an und legte sie unter ihren Kopf. »Tante! Komm her und kümmere dich um Selin!« An Selin gewandt, meinte er: »Sie wird wieder, beruhig dich, das wird schon wieder.«
Rüyas Gesicht war kalkweiß. Ihr Atem ging schwerfällig. Ihre Locken waren über den Boden verteilt und umgaben sie wie ein dunkler Heiligenschein. Trotz der unnatürlichen Blässe wirkte sie träumerisch und zart. Nur vage registrierte er, wie sich eine Menschenmenge um sie herum bildete. Ein Mann kniete sich zu Azad. »Ich habe einen Krankenwagen gerufen. Er müsste gleich eintreffen.«
Dankbar nickte er ihm zu. Selin weinte immer noch hysterisch, aber wenigstens versuchte seine Tante, sie zu beruhigen. Minuten später ging ein Ruck durch die Menge. Mehrere Rufe ertönten, bis der Weg freigemacht werden konnte. Die Sanitäter überprüften ihre Vitalwerte, bemerkten ebenso ihren schweren Atem, wie es Azad aufgefallen war.
»Sie sah blass aus, das Atmen fiel ihr immer schwerer. Dann ist sie plötzlich zusammengeklappt«, erklärte er den Sanitätern, was passiert war.
»Sie ist krank«, warf Selin ein. Tränen liefen ihr immer noch aus den Augen ihre Wange hinab. »Sie muss immer Medikamente nehmen, wegen ihrer Lunge. Sonst kriegt sie schwer Luft.«
»Weißt du, was für eine Krankheit sie hat?«
Selin schüttelte ihren Kopf. Die nächsten Minuten vergingen wie im Rausch. Dann wurde Rüya mit dem Krankenwagen in das örtliche Krankenhaus gebracht. Seine Tante fuhr mit ihr. Azad blieb mit Selin zurück, die sich an ihm festkrallte und nicht aufhören konnte, zu weinen.
»Es wird wieder alles gut, Selin«, murmelte er tröstend; die Arme um ihren kleinen Körper geschlungen. Er wollte sie nach Hause bringen, aber sie schüttelte den Kopf. »Es sind nur ich und Rüya Abla«, erklärte sie ihm. »Aber sie lassen uns nicht zusammen wohnen.«
Er war erschüttert über diese Tatsache, die ihm Selin mit traurigen Augen offenbarte. Es erwischte ihn eiskalt, dabei konnte er nicht einmal benennen, weshalb. Standhaft weigerte sich Selin, zurück ins Pflegehaus zu gehen, und wollte unbedingt zu ihrer Schwester gelangen.
Als sie im Krankenhaus ankamen, lag Rüya auf der Intensivstation. Niemand durfte zu ihr. Seine Tante hielt Wache vor ihrer Tür. Selin, die die ganze Zeit mit bleichem Gesicht bei ihnen saß, fielen vor Müdigkeit ständig die Augen zu. Bis Azad entschied, dass sie genug hatte. Er nahm sie bei der Hand, führte das kleine Mädchen aus dem Krankenhaus und fuhr sie ins Pflegehaus. Als sie ankamen, war sie bereits eingeschlummert. Ihr Kopf lehnte an der Autotür und ein Daumen steckte in ihrem Mund. Azad wagte es nicht, sie zu wecken, weshalb er sie kurzerhand auf seine Arme nahm. Kurz grummelte sie. Ihr Kopf lag in seiner Halsbeuge. Mit einer Hand klingelte er. Kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen und eine Frau erschien vor ihm. Mit großen Augen guckte sie zur schlummernden Selin. »Wer sind Sie?«, fragte sie irritiert.
»Ein Freund von Rüya Özdemir. Leider geht es ihr nicht so gut, daher bringe ich Selin zurück.«
»Hoffentlich nichts allzu ernstes. Wir haben uns schon gewundert, wo Selin bleibt.« Sie wollte ihm Selin abnehmen, doch diese fing noch im Schlummerschlaf an, angstvoll zu wimmern und sich fest an Azad zu krallen. Beruhigend strich er ihr über den Rücken. »Hey, alles gut, Selin.«
»Nicht loslassen«, murmelte sie im Halbschlaf. Er spürte die Tränen an seinem Hals. Es war, als würde ihm jemand ein Messer durch das Herz rammen. »Nicht gehen.«
»Soll ich dich ins Bett tragen, hm?«, fragte er leise. Sie nickte müde, presste ihre Stirn fester auf seine Halsbeuge.
»Da lang«, wies ihm die Betreuerin den Weg zu Selins Zimmer. Sie öffnete ihm die Tür und er trug sie auf das untere Bett von zwei Hochbetten. In den restlichen schliefen Kinder. Mit einer Hand schlug er die blumige Bettdecke zur Seite, legte das kleine Mädchen auf die Matratze. Sie umklammerte seine Hand vor Furcht, er würde gehen und sie alleine lassen. Azad setzte sich auf den Boden und blieb bei ihr, bis sie einschlief.

Wandelnder TraumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt