Eine Armbrust und zuviele Fragen

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„Und die anderen? Was würden die tun?" Leonie erinnert sich daran, dass gemäss Anna dreiundzwanzig Leute im Bunker leben.

Annas Augen sind weiter auf den See gerichtet. „Karl, mein Bruder ... er mag Jan nicht. Er würde uns helfen ... ich glaub jedenfalls. Aber er hasst ... die Aussenwelt. Ich bin mir nicht sicher." Sie schüttelt kurz den Kopf. „Es gibt andere, die vielleicht auf unserer Seite wären. Aber Robert und Adam würden sicher Jan unterstützen.

Leonie erinnert sich an Robert, die bärtige Monobraue mit Mundgeruch, der Arzt. „Adam? Habe ich den gesehen?"

„Er ist normalerweise mit Jan zusammen", antwortet Anna und wendet ihr Gesicht endlich Leonie zu. „Er war bei ihm, als sie dich gefangen haben. Ein stiller, grosser, starker Typ." Ihre Hände zeichnen die Statur eines mächtigen Mannes in die Luft.

Leonie nickt. Er ist der zweite von Jans Bodyguards, nebst Robert, der Grössere der beiden. Er hat Leonie zum Bunker getragen, als sie bewussstlos war.

Sie erinnert sich an Annas Aussage, dass Emma bald schwanger sein könnte. „Hast du nicht gesagt, dass Emma einen Freund hat?", fragt sie. „Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern."

„Ja. Er heisst Frank." Sie kratzt sich an der Nase. „Ich kann nicht sagen, wo er stehen würde. Wahrscheinlich würde er Emma helfen."

„Und der Rest der Leute?", fragt Leonie.

„Schwer zu sagen", antwortet Anna, nochmals mit den Schultern zuckend. „Wir reden kaum je über das, was Jan tut. Er hätte das nicht gerne. Ich weiss also nicht wirklich, was sie denken." Ihr Blick schweift zum See zurück.

Rosies Augen sind auf den Teller vor ihr gerichtet, und Klaus studiert die Hauswand. Leonie kann den Widerwillen der beiden förmlich fühlen. Sie mögen es nicht, wenn Leonie und Anna über ihre Pläne reden. Sie möchten sicher lieber, dass Anna und Leonie bei ihnen bleiben. Dann könnten sie bei den Vorbereitungen für den Winter mithelfen. Leonies Jagdkünste sind viel besser als jene von Klaus. Und Rosie könnte Annas Hilfe im Haus und im Garten sicher brauchen.

Aber das ist nicht möglich. Und Leonie tut es leid.


Den Rest des Mittagessens verbringen sie weitgehend schweigend. Danach bittet Leonie Anna, ihr beim Überprüfen der Fallen zu helfen – nicht weil sie sie braucht, aber weil sie Rosies und Klaus' finsteren Blicken entgehen möchte und weil sie noch mehr Fragen hat, auf die sie Antworten braucht.

Während sie sich ihren Weg durch die Bäume und Büsche der Nachbarschaft suchen, mustert Anna beunruhigt die Umgebung, obwohl sie hier auch schon war. Sie scheint immer noch Angst zu haben, wenn sie sich durch den Wald bewegt.

„Lass uns eine Pause machen", sagt Leonie und weist auf einen umgestürzten Baumstamm.

Anna nickt, und sie setzen sich.

„Die Chips", fragt Leonie, „kann man sie entfernen?" Sie hasst sich dafür, Anna mit all den Fragen zu löchern, aber ihr ist noch so vieles unklar.

„Ich weiss es nicht." Anna schüttelt den Kopf. Ihre Stimme tönt müde. „Robert chippt die Leute. Er benutzt irgendeine Maschine dafür."

„Wo werden sie eingesetzt?", fährt Leonie fort. „Die Chips, meine ich. Werden sie im Kopf implantiert, oder in den Armen, oder wo?"

„Ich weiss es nicht", wiederholt sich Anna irritiert. „Ich habe nie gesehen, wie es gemacht wird. Ich weiss nicht einmal, was ein Chip ist. Ich weiss nichts." Sie wirft Leonie einen frustrierten Blick zu. „Hör zu, ich habe keine Ahnung. Du willst so vieles wissen. Ich versteh das ja, aber ich kann dir nicht helfen. Nicht so. Lass uns einfach zurückgehen und es hinter uns bringen." In ihren Augen stehen Tränen, und ihre Hände sind zu Fäusten geballt.

„Es tut mir leid", sagt Leonie. „Ich wollte dich nicht wütend machen. Es ist nur ... jede Information könnte nützlich sein. Aber es ist in Ordnung. Wir können nicht alles planen. Du hast Recht, wir sollten uns auf den Weg machen und die Sache hinter uns bringen." Sie macht eine Pause, dann blickt sie in Annas Augen. „Bist du bereit?"

Anna nickt.


„Wir beladen morgen das Boot und fahren los", sagt Leonie beim Abendessen.

Rosie schluckt leer. Dann durchstreifen ihre Augen die Küche, als würde sie nach etwas suchen, oder prüfen, ob alles noch da ist. Klaus beobachtet sie und sagt kein Wort.

Schliesslich presst Rosie die Lippen zusammen und greift nach Klaus' Hand. Sie blickt in seine Augen, und die zwei nicken sich zu, fast unmerklich. Sie holt Luft.

„Wir kommen mit", sagt Rosie schliesslich.

Leonie blickt Rosie verwundert an, während diese immer noch auf Klaus fokussiert ist, in dessen Gesicht sich ein Lächeln abzeichnet.

„Wieso?", sagt Leonie. „Ich habe gemeint, dass ihr bleiben wollt, um euch auf den Winter vorzubereiten, auf das Baby. Das ist OK. Ihr müsst nicht kommen."

„Doch, wir müssen mitkommen", antwortet Rosie und wendet ihr Gesicht zu Leonie. „Wir haben lange darüber nachgedacht." Sie wirft Anna ein Lächeln zu. „Anna hat kürzlich etwas Wichtiges gesagt, über Kinder, die miteinander spielen. Es hat uns gezeigt, dass es nur einen Weg gibt." Sie schaut wieder Klaus an.

Leonie ist immer noch verwirrt und mustert ihn fragend.

Er nickt. „Ja, es gibt nur einen Weg um weiterzugehen. Es stimmt, wir werden ein Baby haben. Aber schau dir die Welt an, in welche es geboren würde. Es hat uns, seine beiden Eltern. Und dann hat es hoffentlich auch euch." Sein Blick geht zwischen Anna und Leonie hin und her. „Aber mit wem soll das Kind spielen? Mit wem soll es aufwachsen?"

„Vielleicht wird es Geschwister haben", unterbricht Rosie. „Aber selbst dann, was wird ihre Zukunft sein? Unsere Zukunft? Wir können das nicht alleine durchziehen. Unsere Kinder werden andere brauchen, mit denen sie aufwachsen können. Sie werden Freunde brauchen, Kameraden. Sie werden irgendwann mal jemanden für sich finden wollen, zum ... Zusammensein. Um eine eigene Familie zu gründen, später. Wir müssen unserem Kind ... unseren Kindern ... mehr bieten als nur uns vier. Wir brauchen die Leute im Tal. Ohne sie sind wir nichts. Eine Sackgasse."

„Aber wir wollen nicht, dass unsere Kinder Teil dieses kranken Systems werden, das die dort haben." Klaus errötet und blickt von Anna weg. „Ich meine, dieses Chippen muss aufhören. Wir müssen das stoppen, so dass unser Kind eine Zukunft hat."

„Es ... bringt mich fast um", fügt Rosie hinzu, mit gepresster Stimme, „das hier zu verlassen". Ihre Augen durchmessen nochmals die Küche, und Leonie realisiert, dass Rosie das Zuhause meint, das sich die zwei hier aufgebaut haben. „Aber wir müssen etwas tun. Wir schulden es dem Baby."

Tränen laufen über Rosies Wangen. Leonie lehnt sich über den Tisch und legt die Hand auf ihren Arm, während sie bemerkt, dass sie selbst vor Freude lächelt. Dann schaut sie zu Klaus, auf dessen Gesicht sich ein Grinsen breitgemacht hat.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now