Geiselnehmerin und Geisel

174 23 151
                                    

Leonie setzt sich schweigend neben ihren Schlafsack, ohne den Blick von Anna zu lassen, welche sie mit grossen, dunklen Augen anschaut.

Rehaugen.

Leonie zögert.  Dann denkt sie an Silvan und Jenna, was ihr hilft, ihren Ärger zu kultivieren und kein Mitleid zu haben.

Anna ist die erste, welche die Stille bricht. "Was willst du von mir?" Ihre Stimme ist leise, aber überraschend gefasst.

Leonie nimmt sich Zeit für eine Antwort. "Das wirst du noch sehen", sagt sie und übt ihren wilden Blick, der weiter auf Anna gerichtet ist.

"Bis du aus dem Dorf?" Anna hält den Kopf schräg.

Offenbar genügt der wilde Blick nicht, um Anna soweit einzuschüchtern, dass sie die Klappe hält und Leonie nachdenken lässt.

"Was glaubst du?" fragt Leonie zurück.

"Nein ... ich glaube, du bist nicht aus dem Dorf", erwidert Anna kopfschüttelnd.

"Und wieso nicht? Wieso soll ich nicht aus dem Dorf sein?" Es ist sicher keine schlechte Idee, Anna zum Reden zu bringen. Es gibt so vieles, das Leonie in dieser Welt nicht versteht.

"Du ... benimmst dich anders als die Leute im Dorf. Du bist wütend ... und aggressiv."

Aggressiv? Nun ja, das kann ja mal vorkommen. Nach all dem, was geschehen ist, darf man schon mal aggressiv sein.

"Sind die Leute im Dorf nie wütend?" fragt sie. Sie findet die Emotionslosigkeit und Lethargie der Dorfbewohner unverständlich.

"Nein."

"Wieso denn nicht?" Leonie hat den Eindruck hat, dass sie hier etwas Wichtiges nicht versteht.

"Sie sind gechippt." In Annas Tonfall liegt Ungeduld.

Leonie blickt Anna verständnislos an.

"Sie haben einen Chip implantiert", sagt Anna, langsam und überdeutlich. Offenbar hat Leonies Blick verraten, dass sie keine Ahnung hat, was 'gechippt' ist.

"Und was tut dieser Chip?"

"Er schwächt Gefühle ... zum Beispiel Wut. Und er hilft es, Befehle zu akzeptieren."

Jede von Annas Antworten führen zu weiteren Fragen. Leonie weiss nicht recht, mit was sie beginnen soll. "Bist denn du gechippt?"

Diese schüttelt den Kopf. "Nein, natürlich nicht."

"Natürlich nicht?" Die Leute aus dem Bunker werden Leonie immer unsympathischer – Parasiten, die auf Kosten der Dorfbewohner ein schönes Leben führen. "Wieso bist du nicht gechippt, aber die Leute im Dorf schon?"

"Die Regierungsmitglieder sind nicht gechippt."

"Und du", sagt Leonie in spöttischem Ton, "bist ein Regierungsmitglied?"

"Äh ... nein, natürlich nicht. Aber ich werde ... vielleicht einmal eines sein." Annas Antwort kommt zögernd.

"Und wer entscheidet, wer gechippt wird?" Leonie hat eine vage Ahnung, was die Antwort hierauf sein könnte.

"Die Regierung."

"Wie praktisch für die Regierung!" kommentiert Leonie sarkastisch.

Anna blickt zu Boden.

"Wie viele Leute seid ihr dort in eurem Bunker? Ich meine im Berg, oder in eurem Loch, oder wie immer ihr das nennt." Leonie versucht wieder, ihren bösen Blick zu aufzusetzen.

Anna zögert, ihre Augen jetzt irgendwo auf Leonies Füsse gerichtet. "Wieso willst du das wissen?"

"Ich stelle die Fragen", sagt Leonie trocken. Sie zieht langsam ihr Messer aus dem Halter an ihrem Gurt und beginnt, sich damit theatralisch ihre Fingernägel zu reinigen. Vielleicht würde das Anna daran erinnern, wer hier die stärkere ist.

Anna schweigt.

"Also, wie viele seid ihr?" Sie fährt mit einem Fingernagel der Klinge ihres Messers entlang. Es ist stumpf, aber Anna braucht das ja nicht zu wissen.

Anna schweigt weiter, ihre Lippen zusammengepresst.

Mist, die ist stur. 

Sie überlegt sich, wie sie ihre Drohung mit dem Messer konkreter machen könnte, ohne aber allzu konkret zu werden.

"Wie heisst du?" 

Annas unerwartete Frage unterbricht Leonies blutrünstigen, aber nicht sehr ernsthaften Gedankengang. "Leonie." Die Antwort entschlüpft ihr, bevor sie darüber nachdenken kann.

Sie blickt Anna an. Anna starrt zurück, ihr Blick jetzt mehr trotzig als ängstlich. Leonie seufzt und steckt ihr Messer zurück. Sie hat genug davon, dieses widerliche Theater zu spielen.

"Hast du Hunger?" Sie kramt zwei Äpfel aus ihrem Rucksack und hält Anna einen davon hin.

Annas Mundwinkel entspannen sich.

"Danke." Anna nimmt den Apfel. Sie blickt ihn an, dann wischt sie ihn am Ärmel ab.

Wortlos essen sie. Geiselnehmer und Geisel, und Leonie hat den Verdacht, dass Anna genauso wenig weiss, wie das Ganze jetzt weitergehen soll wie sie. Sie muss ein Schmunzeln unterdrücken.

Was soll ich jetzt nur mit dir tun?

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now