Leere Zimmer und eine Lampe

143 26 79
                                    

Leonie steigt aus dem Boot und klettert auf den Steg. Anna erhebt sich auf die Knie und versucht, im schaukelnden Boot ihr Gleichgewicht zu halten. Leonie reicht ihr die Hand und zieht zu sich hoch. Als sie neben ihr steht, hält sie Anna fest.

„Geht's?", fragt Leonie.

Anna nickt. Ihre Augen sind aufgerissen und mustern die Umgebung.

„Warte", sagt Leonie und bindet das Boot fest – es ist das einzige, das sie haben. Dann legt sie Annas Arm über ihre Schulter, und zusammen gehen sie den Weg entlang, der zum Haus führt. Leonie betrachtet die dunkeln Fenster. Der Himmel ist immer noch erleuchtet vom Licht der untergehenden Sonne. Vielleicht haben die andern drin einfach noch kein Licht angemacht.

Sie umrunden eine Ecke des Gebäudes und erreichen den Eingang. Leonies Herz klopft, als sie die Türe aufstösst. „Hey! Wir sind zurück," ruft sie ins Halbdunkle.

Keine Antwort. Sie treten ein. „Rosie! Klaus!" Diesmal ruft sie lauter, aber das einzige Geräusch, das ihr antwortet, ist Annas Atem hinter sich.

Sie betreten die Küche. Der aschige Geruch des Herds liegt in der Luft, und noch etwas anderes – Kartoffeln? Der Tisch, die Stühle und das Durcheinander von anderen alten Möbelstücken, die sich im letzten Licht des Tages abzeichnen, das alles sieht wunderbar vertraut aus. Und es fühlt sich so an, als wären die Bewohner gerade erst noch hier gewesen.

„Wo sind sie?", fragt Anna und blickt sich im Zimmer um. Das Weiss ihrer Augen leuchtet, während der Rest ihres Gesichts im Halbdunkel kaum zu sehen ist. Leonie zieht einen Stuhl heran und bringt Anna mit sanftem Druck auf ihre Schultern dazu sich hinzusetzen.

„Hallo! Rosie, Klaus!" Leonie verlässt Anna und begibt sich in den hinteren Teil des Hauses. Sie blickt in die Räume dort und ruft die Namen ihrer zwei Freunde. Alles sieht völlig normal aus, aber sie findet niemanden. Ein beklemmendes Gefühl steigt in ihr auf, als sie die Hintertür öffnet und den Garten betritt. Gemüse begrüsst sie, angebaut in aufgeräumten Reihen, wie Rosies Handschrift. Alles scheint zu gedeihen. Aber wo sind Rosie und Klaus?

Ein scharrendes Geräusch, so plötzlich, dass es sich wie ein Stromschlag anfühlt. Es kommt von der Vorderseite des Hauses. Sie geht schnell den Pfad zwischen den Gemüsebeeten und der Hauswand entlang und späht um die Hausecke. Die Türe steht offen, wahrscheinlich haben Anna und Leonie sie offen gelassen.

Von drinnen ertönen Schritte.

Sie rennt zur Türe und geht rein. In der Küche stehen Rosie und Klaus. Sie starren Anna an, und Anna glotzt zurück. Alles ist wie eingefroren – ein Moment völliger Überraschung, unbezahlbar.

Aber das Bild zerbricht, als sie Leonie den Raum betritt und alle in ihre Richtung blicken.

„Hallo...", beginnt Leonie, aber die Gefühle drücken ihr die Kehle zu und sie ist unfähig weiterzusprechen. Ihre Lippen öffnen und schliessen sich tonlos wie der Mund eines Fisches an der Luft.

„Leonie!", ruft Rosie, und wirft sich ihr an den Hals. Sie umarmen sich.

Und Leonie ist zuhause.

Tränen lassen die Szene vor ihr verschwimmen. „Rosie," flüstert sie. „Klaus." Ihre Stimme kehrt langsam zurück.

Klaus kommt näher und legt seine Hand auf Leonies Schulter. Sein Gesicht trägt ein Grinsen. Leonie lächelt zurück – ihr Lächeln so breit, dass es ihr fast den Kopf spaltet.

„Leonie," sagt Klaus, „es ist so schön dich zu sehen." Dann blickt er zu Anna, weiterhin grinsend, und hebt seine Augenbrauen.

Leonie schält sich aus Rosies Umarmung und fragt sich einen seltsamen Moment lang, wie sie das jetzt machen soll. Wen sollte sie jetzt wem vorstellen? Sie weiss, dass es dafür irgendwelche Regeln gibt. Aber wen kümmert's? Sie haben die Welt dieser Regeln hinter sich gelassen, in der Vergangenheit, und es ist einfach wunderbar, im Hier und Jetzt zu sein. Regellos.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now