Menschen, und Beton im Fels

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Von ihrem Versteck am Waldrand erblickt Leonie eine Gruppe von Menschen. Sie stehen zusammen, etwa einen Steinwurf von ihr entfernt. Es eine Handvoll Leute, die meisten davon Männer, einige Frauen.

Einer von ihnen gestikuliert und sagt etwas. Sie braucht einen Moment, um ihn zu erkennen. Es ist Silvan. Und neben ihm steht Jenna. Leonie öffnet ihren Mund, um nach ihnen zu rufen, dann aber entscheidet sie sich, zunächst abzuwarten.

Sie hört nicht, was gesprochen wird, die Distanz ist zu gross. Ein hagerer Mann mit langem, braunem Haar antwortet Silvan und weist mit der Hand vage bergwärts.

Im Hintergrund stehen einige Gebäude, zum Teil ausgebesserte Ruinen, zum Teil Hütten aus Holzbalken und alten Kunststoff- und Metallplatten. Schiefe Bretter und Platten, beschädigte Fenster – der Ort erinnert Leonie an ein Slum.  Aus Kaminen steigt Rauch auf, der Rauch, dem sie seit Tagen gefolgt ist.

Drei weitere Leute aus dem Dorf kommen mit langsamen Schritten auf die Gruppe um Silvan und Jenna zu.

Wie ihre Häuser ist auch die Kleidung der Leute einfach, das meiste davon in Brauntönen. Leder. Wolle? Die Menschen haben einen leicht gebückten Gang und bewegen sich langsam. Ihr Haar, obwohl es bei einigen der Frauen offenbar geflochten ist, macht sogar aus Distanz einen fettigen, ungepflegten Eindruck.

In die Gruppe kommt Bewegung. Der Langhaarige weist nochmals in Richtung der Berge und fordert Silvan und Jenna mit einer Handbewegung offenbar auf mitzukommen. Silvan wendet sich Jenna zu, und sie legt ihren Arm um seine Schulter. Sie muss sich am Fuss oder Bein verletzt haben. Mit Silvans Hilfe beginnt sie dem Langhaarigen humpelnd zu folgen. Die Dorfbewohner begleiten sie.

Leonie zögert. Soll sie sich zu erkennen geben? Sie schüttelt den Kopf und beschliesst, vorerst verborgen zu bleiben. Sie beginnt der Gruppe zu folgen, bleibt aber im Wald, geschützt vor Blicken durch die dicht stehenden Büsche.

Die Gruppe geht sehr langsam, und Leonie hat kein Problem, mit ihnen Schritt zu halten.

Der Weg endet nach einige Minuten am Fuss einer steilen Felswand. Dort bleiben sie stehen. Im Fels ist eine Betonkonstruktion eingelassen. Der Beton ist gezeichnet von den Jahrhunderten, dunkelgrau und grünlich. In der Mitte der Konstruktion befindet sich ein grosses, stahlgraues Tor. Es ist geschlossen.

Der langhaarige Mann nimmt einen Stein vom Boden auf und klopft damit gegen einen der Torflügel, dreimal in langsamer Folge. Der Lärm hallt durch das Tal, wie eine Glocke, welche die Stunde schlägt.

Silvan sagt dem Mann etwas, dieser schüttelt aber nur bedächtig den Kopf.

Da öffnet sich einer der Flügel des Tors nach aussen. Vier Männer treten heraus. Ihre Kleidung ist zum Teil in verblichenen Tarnfarben gehalten, zum Teil grau. Sie wirkt militärisch. Einer der Neuankömmlinge ist aussergewöhnlich gross und trägt sein blondes Haar kurz geschnitten. Seine Uniform ist reich mit glitzernden Abzeichen oder etwas ähnlichem verziert, weshalb er wie ein General aussieht. Die Bekleidung der anderen ist ungeschmückt.

Der 'General' sagt etwas zu den Dorfbewohnern. 

Der Langhaarige antwortet und weist auf Silvan und Jenna. Jetzt fällt Leonie auf, was ihr an den Menschen vom Dorf bisher seltsam vorgekommen ist. Sie wirken kraftlos, lustlos, fast leblos. Ihre Schultern sind eingesunken, die Blicke nach unten gerichtet, ihre Bewegungen langsam. Sie benehmen sich wie unter Drogen, bekifft. Die Neuankömmlinge scheinen Leonie demgegenüber normal, bis auf den Umstand, dass alle vier ziemlich blass aussehen. Sie scheinen offenbar einen grossen Teil ihrer Zeit im Berg zu verbringen.

Silvan spricht den blonden General an und weist auf Jennas Fuss. Der Mann gibt eine Antwort. Silvan beginnt wild zu gestikulieren, offenbar nicht befriedigt. Der Mann sagt etwas, aber Silvan beruhigt sich nicht und gestikuliert weiter. Dann spricht der Mann mit einem der anderen, einem kleinen Mann mit Bart. Dieser zieht einen Stock und schlägt Silvan damit über den Kopf. Silvan sinkt zu Boden.

Leonie hält sich eine Hand vor den Mund und unterdrückt einen Aufschrei.

Der General scheint seinen Leuten etwas zu befehlen. Einer nimmt Jenna beim Arm. Sie wehrt sich und wendet sich Silvan zu, der immer noch am Boden liegt. Der Mann zieht sie ruckartig durch das Tor nach drinnen. Die beiden anderen ergreifen Silvan an den Armen und Beinen und tragen ihn ebenfalls rein. 

Der General blickt die Gruppe aus dem Dorf kurz an, und dann dreht er sich um. Der langhaarige Dorfbewohner ruft ihm etwas zu. Der General wendet sich nochmals um und blickt den Mann stumm an. Dann stösst er ihn mit der Hand von sich weg, dreht ab und geht hinein. Hinter ihm schliesst sich das Tor mit einem metallischen Knall.

Die Leute aus dem Dorf blicken sich an. Dann drehen sie ab und beginnen langsam mit dem Abstieg zu ihren Häusern.

Leonie beobachtet noch eine Weile das Tor. Sie ist wie benommen von den Ereignissen. Alles ging so schnell, sie hatte keine Zeit, zu reagieren. Aber was hätte sie tun können?

Am Tor tut sich nichts mehr. Es steht verschlossen da, bedrohlich und abweisend. Wie der Kiefer eines Tieres, das ihre Freunde geschluckt hat.

Was zum Teufel ist hier passiert?

Das verschlossene Tor bleibt ihr die Antwort schuldig.

Ein metallischer Geschmack macht sich in Leonies Mund breit. Sie realisiert, dass sie sich die Unterlippe blutig gebissen hat.

Mit einem letzten Blick zurück wendet sich Leonie talwärts und folgt den Leuten aus dem Dorf, im Blickschutz des Waldrands.

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