Noch ein Kampf, und etwas am Horizont

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Der Bär hat Leonie offenbar noch nicht gesehen. Leise bewegt sie sich zurück ins Gebäude. Sie greift sich ihren Bogen, die Pfeile und den Speer und geht zu einem Fenster, in welchem nur noch einige blinde Glassplitter verbleiben.

Der Bär ist dem Haus näher gekommen. Sie spannt ihren besten Pfeil in den Bogen und wartet.

Das Tier lässt sich Zeit. Es schnüffelt an der Spur, steckt seine Schnauze in den Schnee und scharrt, scheinbar gedankenverloren. Dann macht es einige Schritte auf das Gebäude zu und schaut sich um. Sein Blick schweift über die Mauern und bleibt einem Moment an Leonies Fenster hängen. Leonie rührt sich nicht. Der Geruch von nassem Hund liegt in der Luft.

Wieder macht der Bär ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Dann schnüffelt er, die Schnauze nach oben gerichtet. Der Abstand zum Fenster beträgt wenige Schritte. Wieder blickt er das Gebäude an.

Leonie zielt auf ein Auge und lässt den Pfeil fliegen.

Als der Pfeil sein Ziel trifft, schreit der Bär auf. Er schüttelt seinen Kopf, der Pfeil fällt ab. Er hält Inne, dann streift mit einer Vorderpfote über die verletzte Stelle.

Leonie wird es gleichzeitig heiss und kalt. Ganz tief in sich fühlt sie eine Kraft, die es ihr unmöglich macht, still zu bleiben. Sie ergreift ihren Speer und geht zur Türe. Den Speerschaft mit beiden Händen haltend rennt sie auf den offenbar immer noch benommenen Bären zu und stösst die Spitze in sein Gesicht. Jetzt erst bemerkt sie, dass sie laut schreit, in einem Ton, den sie noch nie gehört hat.

Der Bär brüllt auf. Für einen Moment stehen sich Leonie und der Bär gegenüber, wie zwei urzeitliche Wesen, die sich anschreien. Dann wendet sich der Bär ab und rennt davon. Leonie blickt ihm nach. Er verschwindet zwischen den Bäumen.

Sie starrt die Stelle an, an welcher der Bär verschwunden ist. Sekunden oder Minuten vergehen, bis ihre Gedanken sich langsam wieder in Bewegung setzen. Sie bemerkt, dass sie am ganzen Leib zittert. 

Weg von hier. 

Sie muss fort von hier, bevor der Bär wiederkommt.

Schnell sammelt sie ihre Habseligkeiten zusammen, ergreift das Reh an den Hinterläufen und verlässt das Gebäude.

Sie blickt sich um. Der Bär ist nirgends zu sehen. Der Nebel ist vom See hochgestiegen und hat fast die Höhe ihres Standorts erreicht.

Sie dreht sich um und beginnt ihren Abstieg seewärts, getrieben vom Adrenalin in ihren Adern.


Bald ist sie völlig vom Nebel umgeben. Alles ist still. Das einzige Geräusch bilden ihre Schritte im Schnee und ihr keuchender Atem, der im Nebel dampft.

Immer wieder blickt sie zurück, in der Erwartung, den Bären hinter sich zu sehen. Doch sie sieht nur schwarze Bäume, weissen Schnee und grauen Nebel.

Sie macht keine Pause, bis sie die Ausläufer der Stadt erreicht hat. Dort setzt sie sich erschöpft auf eine schneebedeckte Mauer. Ihre Vorräte sind fast aufgebraucht. Das Wenige, das sie in ihrem Rucksack findet, ist schnell aufgegessen.

Seit ihrem Zusammenstoss mit dem Bären sind Stunden vergangen. Leonie fühlt sich ausgebrannt, das Adrenalin in ihrem Blut schon lange aufgebraucht. Doch sie zwingt sich dazu weiterzugehen. Ihre Arme schmerzen. Die Last, welche sie hinter sich herzieht, scheint immer schwerer zu werden.

Ihre kalten Finger fühlen sich an, als seien sie an den Läufen des Tiers festgefrohren. Aber sie will sie nicht loslassen. Sie kann es nicht.


Als sie schliesslich ihr Haus am See erblickt, dunkelt es bereits ein. Sie bleibt kurz stehen. Ihr Zuhause. Ihre Freunde. Ihr Leben.

Sie öffnet die Türe und tritt ein, ohne zuvor den Schnee von ihrer Kleidung abzuklopfen. Sie marschiert mit schweren Schritten in die Mitte der Stube, das Reh und mindestens nochmal soviel Schnee hinter sich her schleifend. Dann bleibt sie stehen, regungslos.

Die anderen sitzen um den Tisch, Münder geöffnet. Man hört nur das Knistern des Feuers im Kamin.

"Leonie!" Rosie findet als erste ihre Stimme, steht auf, kommt auf Leonie zu und nimmt sie in die Arme.

"Wir haben dich den ganzen Tag gesucht. Wo warst du?" Auch Silvan ist aufgestanden.

"Ich ..." Leonie merkt, dass ihr das Sprechen schwerfällt. Ihre Lippen und Wangen sind starr vor Kälte. "Ich war wieder mal Shoppen." Mit Anstrengung löst sie ihre klammen Finger von den Füssen ihrer Beute. Dann stellt sie sich ans Feuer, das im Kamin brennt.


Später, viel später liegt sie in ihrem Bett. Sie geniesst die Wärme ihres Schlafsacks. Sie denkt an den Morgen zurück. 

Ein Bär im Winter. Sie war der Meinung, dass diese Tiere Winterschlaf halten. Aber Klaus hat ihr erklärt, dass sie manchmal aufwachen, oder den Winterschlaf überspringen, beispielsweise bei Krankheit, oder wenn eine Mutter im Sommer Junge hatte. 

Dann denkt sie sich an die Minuten vor dem Auftauchen des Bärens. An den Sonnenaufgang über den Bergen. An das goldene Leuchten der Landschaft. Und dann erinnert sie sich wieder. Im grossen Tal, das in die Berge führt, da stieg etwas auf. Rauch?

Welt der RuinenМесто, где живут истории. Откройте их для себя