Umzug, und ein Geburtstagsfest

184 23 101
                                    

Anna hat sich aus dem Staub gemacht.

Eigentlich hätte sie damit rechnen müssen, sagt sich Leonie. Sie hätte Anna festbinden sollen. Nicht umsonst fesselt man Geiseln, oder man sperrt sie ein. Jeder normale Entführer weiss das. An Annas Stelle hätte sie wohl dasselbe getan, auch Leonie hätte die erste Gelegenheit ergriffen, um abzuhauen.

Nach dem ersten Ärger fühlt Leonie eine Erleichterung aufsteigen. Sie braucht sich jetzt nicht mehr zu überlegen, was sie mit Anna tun soll. Aber in die Erleichterung mischt sich Enttäuschung. Sie realisiert, dass sie sich auf weitere Gespräche mit Anna gefreut hat.

Doch jetzt ist nicht die Zeit, über diese Dinge nachzudenken. Anna könnte schon vor Stunden den Bunker erreicht haben. Jan und seine Schergen befinden sich vielleicht bereits auf dem Weg zu Leonies Versteck.

Schnell packt sie ihre Sachen zusammen. Mit einem letzten Blick zurück verlässt sie ihr Nachtlager und marschiert flussabwärts, bis sie die Ruinen eines Dorfs erreicht. Dort wendet sie sich bergwärts und steigt ein Seitental hoch, nach einer neuen Bleibe suchend.

Sie braucht ziemlich lange, bis sie ein geeignetes Objekt findet. Es ist ein Steinhaus, dessen Dach in einer Ecke noch intakt ist und Schutz vor Regen verspricht.

Leonie setzt sich auf einen Steinblock vor dem Haus. Von hier hat sie einen guten Blick ins Tal. Zu ihrer Linken sieht sie das obere Ende des Sees, von welchem das Haupttal nach rechts verläuft. Sie sieht auch den Rauch, der vom Dorf aufsteigt.

Sie muss etwas unternehmen. Sie muss Silvan und Jenna aus dem Bunker rausholen. Die Frage ist nur wie.


Leonie beschliesst, diesen Tag nicht zum Dorf zu gehen. Nachdem Anna im Bunker von ihrer Entführung berichtet hat, ist eine Reaktion zu erwarten. Suchtrupps, verstärkte Wachen.

Sie verbringt den Tag damit, Nahrung zu suchen. Sie erlegt einen Hasen und findet einen Baum mit Aprikosen. Die orangen, süssen Früchte sind herrlich. Es muss bereits Juni sein. Sie bemerkt, dass sie ihren Geburtstag verpasst hat. Der war am 15. Mai. Nachträglich gratuliert sie sich. Aufs Singen verzichtet sie – alleine macht das keinen Spass.


Am nächsten Morgen schleicht sie sich zum Dorf zurück, vorsichtig nach Wachen Ausschau haltend. Doch alles ist ruhig, unverändert. Vom Waldrand beobachtet sie, wie die Leute wie jeden Tag auf die Felder zur Arbeit gehen.

Plötzlich beginnt hinter ihr ein Vogel zu kreischen, laut und wiederholt. Ein Staccato kurzer, klagender Schreie. Sie blickt sich um, sieht aber nichts. Ihren Speer vor sich haltend, nähert sie sich vorsichtig dem Geräusch, das aus einem Gebüsch kommt. Plötzlich stoppt das Geschrei. Mit einem Rascheln springt eine Wildkatze aus dem Dickicht, einen Vogel im Maul, und rennt im Zickzack davon.

Leonie schaut ihr nach. Sie fröstelt. Kalter Schweiss bedeckt ihren Körper.

Sie begibt sich wieder zum Waldrand zurück und blickt zum Dorf. Zwischenzeitlich sind die drei Männer vom Bunker mit ihren Körben angekommen. Jan mit seinen hellen Haaren ist gut zu erkennen. Begleitet wird er von einem etwas Dicklichen mit dunklem Haar und einem Kleinen mit kurzem Haar und Bart.

Leonie zieht sich vom Waldrand zurück und läuft zum Bunkereingang hoch.

Wie erwartet, steht dort das Tor offen, und es schieben zwei Leute Wache. Nicht mehr als sonst.

Der Abstand zu den Wachen beträgt etwa dreissig, vierzig Schritte. Sie könnte versuchen, ihren Bogen einzusetzen. Dann schüttelt sie den Kopf. Sie ist kein Killer. Und im Übrigen könnte sie ja nur einen aufs Mal angreifen und der andere würde dann Hilfe holen.

Dann kommt die Frau mit der Pistole raus, die Pistolenträgerin. Mit ihr sind die beiden Männer, welche sie schon beim letzten Joggingausflug beobachtet hat, der Lockenkopf und der Schnauzträger. Anna ist nicht dabei.

Nach kurzem Gespräch mit der Wache rennen die drei in den Wald davon, der üblichen Joggingstrecke folgend.

Kurze Zeit später kehren Jan und seine Leute zurück, die Körbe gefüllt. Sie reden mit den beiden Wachen.

Etwa eine Viertelstunde vergeht, bis auch die Jogginggruppe zurückkehrt. Dann verschwinden die Leute nach und nach im Bunker, und das Tor schliesst sich.

Bis auf das Fehlen von Anna sieht alles fast aus wie beim letzten Mal.

Leonie fragt sich, ob Anna überhaupt zurückgekehrt ist, oder ob sie sich bei ihrer Flucht im Dunkeln verlaufen hat. Sie geht den Weg zu ihrem alten Nachtlager zurück, nach Spuren von Anna suchend, findet aber nichts.


Auch die folgenden Tage nimmt im Dorf und beim Bunker alles seinen normalen Gang. Leonie hält sich in den Wäldern versteckt und beobachtet. Sie sorgt sich um ihre Freunde und sucht einen Plan für deren Rettung. Und sie sorgt sich um Anna.

Am dritten Tag, als Leonie die Wachen beim Tor beobachtet, sieht sie Anna. Sie begleitet die drei anderen Jogger. Leonie fällt ein Stein vom Herzen.

Anna mustert die Umgebung aufmerksam. Dann verschwindet sie mit den drei anderen im Wald. Leonie überlegt sich zu folgen, doch sie entscheidet sich dagegen – es könnte eine Falle sein.

Nach einer Weile kehren die vier zurück. Anna redet sie mit dem Lockenkopf. Ihr Freund? Ihr Bruder?

Leonie ist erstaunt, dass sich das Verhalten der Leute nach der Entführung von Anna so wenig geändert hat. Sie fragt sich, ob Anna den anderen überhaupt von ihrem unfreiwilligen Ausflug erzählt hat.


In der vierte Nacht nach Annas Entführung schleicht sich Leonie nochmals ins Dorf, um Vorräte zu stehlen. Nicht besser als Jan, realisiert sie. Sie lebt von der Arbeit der Dorfleute. Und sie gibt ihnen nichts dafür.

Danach begibt sie sich zurück in ihr Nachtlager. Auf dem Weg dorthin sucht sie nach Plänen, um Silvan und Jenna zu befreien, ohne Erfolg – und ohne zu wissen, dass sich am nächsten Tag alles ändern wird.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now