Eine Bibliothek und eine schöne Nacht

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Sie nehmen den sanft abfallenden Weg, der Richtung Stadt führt.

„Ich glaube, es sind Wölfe, nicht Hunde", sagt Klaus trocken.

Leonie würde lieber über etwas Erfreulicheres reden als über die Tiere, welche sie beim Zerreissen ihrer Beute beobachtet haben und vor denen sie geflohen sind. Eigentlich möchte sie überhaupt nicht über diese Welt reden. Aber sie ist dennoch neugierig. „Wie kommst du darauf?"

„Evolution", antwortet er. „Wölfe können in einer solchen Welt besser überleben."

Sie zuckt die Schultern. Wölfe – wen kümmert's? Ich möchte einfach nur nachhause.


Sie machen einen grossen Bogen um die Stelle, an welcher sie die Wölfe/Hunde gesehen haben, und marschieren Richtung Stadtzentrum. Immer wieder glaubt Leonie hinter sich ein Rascheln zu hören und blickt zurück, in der Erwartung ein Rudel der Tiere zu sehen, das sie verfolgt. Doch die überwachsenen Strassen bleiben leer.

Auch im Stadtzentrum bleiben von den meisten Gebäuden nur Ruinen, kaum mehr als ein oder zwei Stockwerke hoch. Schweigend marschieren sie weiter, dunkle Fensterhöhlen wie Augen auf sie gerichtet.

Die Pflanzen haben alles überwuchert, was die Menschen hier zurückliessen. Eine Geisterstadt im Urwald, erfüllt vom Geschrei der Vögel und vom Rauschen der Blätter.

Silvan geht immer noch vorneweg. Er bleibt stehen und weist nach links. "Schaut mal da!"

Im Schatten einiger Bäume, die sich ihren Weg durch den Asphalt zum Himmel gebahnt haben, stehen die Überreste eines Hauses. Ein älteres Gebäude, offenbar aus Steinquadern errichtet, welches der Zeit besser widerstanden hat als die Beton- und Stahlbauten um es herum.

Vor dem Gebäude liegt eine von Efeu überwucherte Treppe, welche zu einem Portal führt. Die Türen sind offenbar schon längst verrottet, so dass sie freie Sicht auf die Eingangshalle dahinter gewähren.

Über dem Portal sind Buchstaben in den Sandstein gemeisselt. BIBLIOTHÈQUE/BIBLIOTHEK liest Leonie. Das französische Wort erinnert sie an endlose Schulstunden der übelsten Sorte. Sie fragt sich, ob sie jemals wieder eine Französischlektion haben wird. Sie bezweifelt es. Und sie ist erstaunt, dass sie das traurig macht.

"Kommt, das schauen wir uns genauer an". Klaus, der eine Schwäche für Bibliotheken hat, marschiert auf das Gebäude zu.

"Warte", ruft ihm Silvan nach. "Sei vorsichtig. Wir wissen nicht, was sich da drinnen verstecken könnte."

Klaus reagiert nicht und geht weiter. Silvan folgt ihm leise fluchend.

"Also ich bleibe nicht hier", sagt Leonie.

Sie spricht damit offenbar die Gedanken von Rosie und Jenna aus, welche sich gleichzeitig mit ihr in Bewegung setzen.

Beim Portal angekommen, bleiben alle stehen und studieren den Raum vor ihnen. Er ist hoch, und erstaunlich hell. Das Dach des Gebäudes ist weitgehend eingestürzt ist. Auch ein Teil des Bodens fehlt, offenbar in den Keller darunter abgestützt. Auf den verbleibenden horizontalen Flächen haben Pflanzen Fuss gefasst.

Klaus macht sich an der Wand neben dem Portal zu schaffen und beginnt dort Kletterpflanzen herunterzureissen. Seine Anstrengungen legenein Schild aus irgendeinem Metall frei. Es ist ziemlich stark korrodiert, aber Leonie erkennt Vertiefungen, die einen Schriftzug bilden.

BIBLIOTHÈQUE PUBLIQUE DE GENÈVE / ÖFFENTLICHE BIBLIOTHEK GENF

RENOVÉE / RENOVIERT - MMCCXXIV -

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now