Regen, und ein Blick durch das Gebüsch

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Nach der Überquerung der Brücke sitzt Leonie eine ganze Weile einfach nur im Gras. Langsam löst sich die Spannung in ihren Muskeln.

Plötzlich landet eine Krähe nur wenige Meter vor ihr entfernt auf einem alten Betonblock und blickt sie fragend an, den Kopf etwas geneigt.

Leonies Speer ist weg, aber sie hat immer noch ihren Bogen. Langsam führt sie die Hände zur Sehne, die über ihre Brust verläuft, doch bevor sie die Waffe über die Schultern heben kann, kreischt der Vogel sie verärgert an und schwingt sich wieder in die Lüfte.

Mistvieh.

Dann zuckt sie mit den Schultern. Das Fleisch von Krähen ist sowieso zäh und schmeckt gammelig. Sie warf dem Tier einen letzten, verächtlichen Blick zu.

Mit einem Stöhnen steht sie auf. Ihre rechte Hand schmerzt, doch der Schnitt, den sie sich beim Festklammern am Brückenbogen eingefangen hat, ist nicht sehr tief.

Ein kühler Windstoss bläst ihr den feuchten Geruch des Flusses ins Gesicht. Der Himmel ist nun ganz mit dunklen Wolken überzogen. Die Rauchfahne ist nicht mehr sichtbar, vielleicht von den Bäumen verdeckt, die nahe am Ufer stehen. Sie schätzt, dass der Ursprung Rauchs noch weiter flussaufwärts liegt.

Sie folgt weiter dem Wasserlauf. Ihr Blick wandert unablässig hin und her und sucht nach Spuren von Raubtieren und Menschen. Ihre Hände vermissen das beruhigende Gefühl, einen Speer zu halten. Seit dem zweiten Treffen mit einem Bären trug sie diese Waffe immer mit sich.



Es beginnt zu nieseln, dann zu regnen. Ihr Magen erinnert sie vorwurfsvoll daran, dass die Mittagszeit schon lange vorbei ist. Die Überquerung des Flusses hat sie viel Zeit gekostet. 

Sie erreicht eine weitere Brücke, deren eingebrochene Fahrbahn mitten über dem Fluss endet, aber am Ufer bietet sie Schutz vor den Regentropfen. Sie isst getrocknete Früchte. Ihre Kleider sind durchnässt und sie beginnt vor Kälte zu zittern.

Als sie sich wieder aufmacht, fragt sie sich, ob die Stelle, wo sie gestern den Rauch hat aufsteigen sehen, vor oder hinter ihr liegt. Bäume versperren ihre Sicht nach rechts. Sie marschiert weiter. 

Der Regen geht in ein Nieseln über, als sie zu einer Ruine mit gelblich getünchten Mauern gelangt. Die beiden unteren Etagen des Gebäudes stehen noch, doch vom dritten Stockwerk zeugen lediglich einige Stahlträger, die in den Himmel ragen.

Sie betritt das Erdgeschoss und findet eine Betontreppe, welche nach oben führt. Die Rostspuren, die sich auf der bröckeligen Oberfläche der Stufen abzeichnen, sind nicht vertrauenserweckend. Vorsichtig steigt sie hinauf. Sie erreicht das oberstes Stockwerk, ohne in die Tiefe zu stürzen.

Von dieser Höhe ist die Aussicht deutlich besser. Sie blickt sich um. Der Wind hat sich gelegt. Gegen Süden sind die Wolken verschwunden und geben den Himmel frei, sein frisch gewaschenes Blau leuchtet über den Gipfeln. Dann schaut sie zurück, in die Richtung, aus welcher sie gekommen ist.

Im Südwesten sieht sie eine Rauchfahne aufsteigen, hinter einem Wald. Schon fast zum Greifen nahe.

Sie prägt sich die markante Bergspitze ein, vor welcher der Rauch hochsteigt. Dann steigt sie wieder die Treppe runter und verlässt das Gebäude.

Von unten ist der Rauch hinter den Bäumen verborgen, aber sie erkennt die Bergspitze hinter den Wipfeln. 

Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Vielleicht wird sie heute noch Menschen sehen. Menschen, aufgewachsen in dieser Welt der Trümmer und Ruinen. 

Antworten. Neue Freunde. Leben und eine Zukunft.

Sie marschiert los.

Ihr Weg steigt zu einem Wald hoch. Das Unterholz steht dicht. Sie verliert die Bergspitze aus den Augen und versucht, möglichst unbeirrt geradeaus zu gehen. Sie kämpft sich durch das immer noch regennasse Dickicht, und nach kurzer Zeit hat sie keine Ahnung mehr, in welcher Richtung sie den Rauch hat aufsteigen sehen. Ihrem Gefühl folgend geht sie weiter.


Sie ist im Begriff umzukehren und sich nochmals am Fluss zu orientieren, als sie vor sich den Rand des Waldes erblickt. Die Bergspitze, die sie sich eingeprägt hat, ist durch das Laub zu sehen. Und der Rauch.

Sie zwingt sich langsamer zu gehen und atmet tief durch. Vielleicht ist all dies nur Wunschdenken. Vielleicht sind die Menschen ihr feindlich gesonnen. Oder vielleicht gibt es hier gar keine Menschen.

Schritt um Schritt geht sie auf den Waldrand zu. Sie nähert sich einigen Büschen, hinter denen eine grosse Lichtung beginnt.

Die Lichtung ist ein Feld.

Dann erstarrt sie.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now