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Später sitzt Leonie mit Rosie und Klaus in Wohnzimmer und schält Kartoffeln, als sich die Türe öffnet. Silvan tritt ein, gefolgt von Jenna.

"Leonie, du bist aufgestanden!" Silvan kommt auf sie zu. Leonie erhebt sich, und Silvan umarmt sie kurz. Er tritt zurück und schaut sie an. "Du bist dünn geworden."

"Du nicht!" Leonie mustert Silvan. "Richtige Arbeit scheint dir gut zu bekommen." Er wirkt grösser und stärker als vor drei Wochen. Sein Gesicht hat Farbe gewonnen, welche die Wärme seiner braunen Augen unterstreicht.

"Hallo Leonie!" Jenna hat sich nun neben Silvan gestellt. Auch ihr sieht man an, dass sie die letzten Wochen draussen verbracht hat. Ihr Gesicht strahlt. "Wie geht's?"

"Ich ... hab schon Klaus erklärt, dass ich mich wie 80 fühle." Leonies Lächeln friert ein, als sie sieht, dass Jenna Silvans Hand hält.

"Das wird sicher bald besser." Jennas grosse Augen blicken mitleidig. "Ich hab was für dich!" Sie zieht ihren Rucksack aus, holt eine Traube raus und reicht sie Leonie.

"Danke", sagt Leonie, die auf Autopilot umgeschaltet hat. Sie setzt sich wieder und schaut zu, wie Jenna und Silvan ihre Rucksäcke leeren. Grösstenteils Früchte und Beeren. Zudem hat Silvan ein Kaninchen erlegt, das er an den Rucksack gebunden hat.

Leonie isst die süssen Beeren der Traube, nimmt deren Geschmack aber kaum wahr. Sie sieht, wie Silvan Jenna beim Auspacken hilft und dabei zärtlich ihre Schulter berührt und wie Jenna Silvan anlächelt.


Während des Abendessens erzählen Jenna und Silvan von ihrem Ausflug in die Umgebung. Leonie, der langsam die Decke auf den Kopf fällt, hört zu und versucht tapfer die Blicke zu ignorieren, die sich die zwei zuwerfen, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Sie erzählen von den Ruinen, die sie erkundet haben, grossen Villen am See, einer Stadt östlich von ihnen und Wolfsspuren im Schlamm.

"Hey, Leonie, schau nicht so traurig", versucht Klaus sie aufzumuntern. Offenbar sieht man ihr an, dass sie den Abend nicht wirklich geniesst. Sie hofft, dass der Grund dafür aber nicht ganz so offensichtlich ist. "Schon bald wirst auch du wieder draussen rumstreifen können."

Klaus steht auf und geht in eine Ecke des Raums. "Ich hab etwas für dich." Er kehrt mit einem Bogen und einem Köcher voll Pfeilen zurück. "Den habe ich gebaut."

"Er macht perfekte Pfeilbogen", wirft Silvan ein. "Aber er braucht sie nie."

"Ja, stimmt", fährt Klaus fort. "Die Jagd ist nichts für mich. Aber ich dachte mir, dass du den Bogen vielleicht brauchen kannst. Immerhin warst du die erste von uns, die ein wildes, grosses Tier erlegt hat."

Mit einem Lächeln denkt Leonie an den Hasen zurück. "Danke", sagt sie und nimmt Bogen und Köcher entgegen. Sie fühlen sich gut an.

Am Schluss des Abends beobachtet Leonie mit Erstaunen, dass sich Rosie und Klaus gemeinsam in ein Zimmer zurückziehen. Weniger überrascht ist sie, dass sich auch Silvan und Jenna offenbar das Bett teilen.

Na toll, denkt sie sich. Und mir bleiben Pfeil und Bogen.


Leonie wacht früh auf. Draussen steht die Sonne noch unter dem Horizont, es ist aber bereits ziemlich hell.

Sie begibt sich ins Badezimmer. Dort gibt es zwar kein fliessendes Wasser, aber immerhin einen Krug davon, mit dem sie ihren Mund ausspülen kann. Zahnpasta und Zahnbürsten fehlen. Da müssen wir dringend etwas unternehmen, denkt sie sich und erinnert sich schaudernd an den Mundgeruch ihrer Kameraden. Zumindest ein Vorteil, wenn man das Zimmer nicht mit jemandem teilt.

Sie blickt ihr Gesicht in einem Spiegel an, der an die Wand gelehnt ist. Im Halbdunkel sieht sie den Umriss ihrer zerzausten Haare.

Sie greift sich den Spiegel, kehrt in die Küche zurück und durchsucht das uralte Möbelstück, in welchem sie ihr Geschirr aufbewahren. Sie findet ein Messer. Sodann geht sie nach draussen, hinunter an den See.

Die Luft ist kühl und erfrischend. Sie setzt sich ans Ufer und stellt den Spiegel vor sich gegen einen Mauerrest. Dann beginnt sie damit, sich mit dem Messer die Haare zu schneiden.


Später betrachtet sie das Resultat ihrer Arbeit. Ihr dunkelblondes Haar ist jetzt kurz. Ihr einst rundliches Gesicht ist schmal geworden, die Mundlinie dünn, die Augen blicken hart. 

Sie führt einen Finger der langen, hässlichen Narbe entlang, die sich über ihre rechte Wange erstreckt.

Das ist nicht die Leonie, welche sie vor wenigen Wochen noch war. Kein Mädchen. 

Eine zerrissene Gestalt, wild, wütend und bereit etwas zu töten.

Sie begibt sich zurück ins Haus und stellt den Spiegel an seinen Platz. 

Die anderen schlafen noch.

Ohne Lärm zu machen, packt sie das Messer, etwas Proviant und Kleidung in ihren Rucksack. Nach längerem Suchen findet sie ihren Schürhaken. Dann nimmt sie sich ihren Bogen, greift sich einen Speer und verlässt das Haus.

Welt der RuinenWhere stories live. Discover now